Der unheimliche Anstieg der Totgeburten in Deutschland |ABC-Z

Die Totgeburtenrate in Deutschland ist seit 2010 deutlich angestiegen – anders als in den meisten europäischen Ländern. Ein erfahrener Geburtsmediziner spricht über mögliche Gründe. Das steigende Alter der Mütter spielt eine Rolle.
Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung in Rostock hat ein erschreckendes Ergebnis erbracht: Im Jahr 2007 wurden in Deutschland 3,5 Kinder je 1000 Geburten tot geboren. 2021 waren es mit 4,3 Totgeburten je 1000 Geburten deutlich mehr. Als „Totgeburt“ gilt ein Kind, wenn es bei der Entbindung mindestens 500 Gramm wog oder die 24. Schwangerschaftswoche erreicht war.
Michael Abou-Dakn ist ärztlicher Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am St. Joseph Krankenhaus in Berlin.
WELT: Die Zahl der Totgeburten steigt in Deutschland kontinuierlich, während sie in anderen Ländern Europas sinkt oder stagniert. Warum?
Michael Abou-Dakn: Man muss bei Ländervergleichen immer die Definitionen berücksichtigen: Ab welchem Gewicht, ab welcher Schwangerschaftswoche spricht man von Totgeburt und nicht mehr von Fehlgeburt? Das macht es schwierig, Zahlen in Beziehung zueinanderzusetzen. Ein zweiter Gedanke dazu: Vor gut zehn Jahren gab es an Berliner Kliniken eine Untersuchung von Totgeburten, die Joachim Dudenhausen durchgeführt hat. Da haben wir gesehen, dass es sich bei den meisten Totgeburten um Fetozide handelte.
WELT: Das müssen Sie erklären.
Abou-Dakn: Das heißt, die Schwangerschaft wurde in einem späten Stadium abgebrochen, da das Kind schwere Fehl- oder Missbildungen hatte. In Deutschland ist ein Abbruch in dieser speziellen Situation ohne Frist möglich, also theoretisch noch kurz vor dem Geburtstermin. Diese Möglichkeit ist in vielen Ländern so nicht gegeben. Das könnte erklären, warum die Totgeburtenrate in Deutschland höher ist als anderswo. Alles andere wäre nicht recht nachvollziehbar. Wir haben ein hervorragendes System an Vorsorgeuntersuchungen, für das wir auf der ganzen Welt beneidet werden. Vielleicht spielt sogar gerade eine bessere Medizin eine Rolle bei der höheren Zahl an Totgeburten.
WELT: Wie meinen Sie das?
Abou-Dakn: Die Pränataldiagnostik läuft in Deutschland auf einem äußerst hohen Niveau. Viele Veränderungen werden dadurch sehr früh festgestellt, aber es gibt auch Auffälligkeiten, die man erst in der fortgeschrittenen Schwangerschaft darstellen kann. Das könnte vielleicht dazu führen, dass man hier mehr Fehl- und Missbildungen erkennt als in anderen Ländern, vielleicht auch später als anderswo.
WELT: Spielt die Schließung von Geburts- und Kinderkliniken eine Rolle?
Abou-Dakn: Ich wüsste nicht warum. Totgeburt bedeutet ja, dass das Kind vor der Geburt verstorben ist. Also: Das Kind ist bereits intrauterin – in der Gebärmutter – tot, bevor der Geburtsakt begonnen hat. Beim Thema Totgeburten kommt es vielmehr darauf an, wie Frauen in der Schwangerschaft versorgt und betreut werden.
WELT: Frauen bekommen immer später Kinder. Könnte das höhere Alter der Mütter ein Grund für die Entwicklung sein?
Abou-Dakn: Das könnte mit hineinspielen. Hier hat es in den vergangenen zehn, 15 Jahren deutliche Veränderungen gegeben: Das durchschnittliche Alter der Mütter ist kontinuierlich gestiegen. Mit dem höheren Alter der Frauen sehen wir eine höhere Rate an Fehlbildungen und auch an Totgeburten. Außerdem haben ältere Mütter häufiger Diabetes und andere Erkrankungen, die wiederum das Risiko für eine Totgeburt erhöhen.
WELT: Nach künstlichen Befruchtungen kommt es häufiger zu riskanten Mehrlingsschwangerschaften. Trägt das zur hohen Zahl an Totgeburten bei?
Abou-Dakn: Da muss man differenzieren. Bei der Reproduktionsmedizin hat man sich darauf eingespielt, Frauen ab einem bestimmten Alter nur noch eine befruchtete Eizelle einzusetzen. Dass es wie früher zwei, drei sind, ist inzwischen eher die Ausnahme. Daher kommt es heute in der Folge auch nur noch selten zu Mehrlingsschwangerschaften. Allerdings ist bei älteren Frauen die Wahrscheinlichkeit, Mehrlinge – meist Zwillinge – zu bekommen, grundsätzlich größer, ganz unabhängig von der Reproduktionsmedizin. Das dürfte aber keine große Rolle spielen, was die Zahl an Totgeburten anbetrifft.
WELT: Warum nicht?
Abou-Dakn: Bei Zwillingen ist das Risiko für einen intrauterinen Fruchttod nur unter bestimmten Umständen erhöht, die relativ selten vorkommen. So kann es sein, dass aus einer Eizelle zwei Kinder entstehen, die nur einen Mutterkuchen und zwei Fruchthöhlen oder nur einen Mutterkuchen und eine Fruchthöhle haben. Bei solchen speziellen Schwangerschaften ist die Gefahr, dass eines oder beide Kinder vor der Geburt versterben, tatsächlich erhöht. Der Anteil solcher Schwangerschaften hat sich aber nicht wesentlich verändert.
WELT: Hat es Auswirkungen, dass die Kaiserschnitt-Rate gestiegen ist?
Abou-Dakn: Ja, auch das. Allerdings hat sie in Deutschland in den letzten Jahren nicht wesentlich zugenommen, sondern liegt in etwa in gleicher Höhe. Ansonsten ist es ein durchaus sinnvoller Gedanke, die Sectio-Rate in die Überlegungen einzubeziehen. Frauen, die einen Kaiserschnitt hatten, haben bei der nächsten Schwangerschaft ein höheres Risiko für eine Fehl- oder Totgeburt.
WELT: Viele Frauen und Hebammen bevorzugen heute „natürliche Geburten“. Gibt es mehr Hausgeburten, und wie riskant ist das?
Abou-Dakn: Die Hausgeburtenrate in Deutschland ist unwesentlich angestiegen und liegt jetzt bei etwa 1,4 Prozent, in Berlin ist die Rate etwas höher. Es gibt einen großen Streit über die Gefahren solcher Geburten, aber da geht es nicht um Totgeburten, sondern um Risiken während der Geburt. Manchmal gibt es dabei Katastrophen, die man vermeiden könnte, wenn unmittelbare ärztliche Hilfe möglich wäre. Deshalb sagen wir: Wenn man sich für eine Hausgeburt entscheidet, dann sollte möglichst eine Klinik in der Nähe sein. Sicherer ist auf jeden Fall, für ein Setting in der Klinik zu sorgen, bei dem man von ärztlicher Seite möglichst zurückhaltend ist, um die Natürlichkeit der Geburt zu fördern. Dann hat man doch alle medizinischen Möglichkeiten, wenn es zu Zwischenfällen kommen sollte.
WELT: Wie ließe sich die Vorsorge in der Schwangerschaft noch verbessern?
Abou-Dakn: Schon seit Jahrzehnten schauen wir, dass wir Vorsorge so gestalten, dass die Risiken für Mutter und Kind möglichst gering sind. Anhand von Ultraschall- und Doppleruntersuchungen versuchen wir abzuschätzen, wann man die Geburt einleitet, damit es eben nicht zur Totgeburt kommt. Ich glaube schon, dass die Medizin hier immer besser geworden ist. Vielleicht hilft uns auch KI in Zukunft noch ein bisschen besser, Risiken einzuschätzen und zum Beispiel den richtigen Moment für eine Einleitung zu erkennen. Es gibt aber einzelne Situationen, die nicht vermeidbar und nicht vorhersehbar sind – ein Mutterkuchen, der sich plötzlich löst oder eine Thrombose in der Nabelschnur, die plötzlich zum Tod führt. Das sind Dinge, die schlagen ein wie ein Blitz, da kann man vorher kaum etwas davon sehen. Ich kann mich an meine ersten Totgeburten erinnern und die Verzweiflung als junger Arzt, vielleicht etwas versäumt zu haben. Es wird ein gewisser Anteil bleiben an solchen Totgeburten, das lässt sich einfach nicht in jedem Fall verhindern.
WELT: Welche Ratschläge haben Sie für werdende Mütter?
Abou-Dakn: Ich empfehle ihnen grundsätzlich, vertrauensvoll mit ihrer Frauenärztin oder -arzt zu reden und hoffnungsvoll zu bleiben. Das Ereignis einer Totgeburt ist zum Glück ein sehr seltenes. Wenn Risiken da sind, sollte man sich Fachleute suchen, die einen unterstützen, und zwar möglichst positiv. Frauen sollten schließlich nicht noch mehr Angst in der Schwangerschaft haben.
WELT: Was ist mit Screenings?
Abou-Dakn: Die Suche nach Auffälligkeiten finde ich schon wichtig, aber Eltern müssen selbst entscheiden, ob sie das wollen. Schließlich kann es auch die Entscheidung erforderlich machen, wie man mit einer eventuellen Fehlbildung oder Erkrankung des Kindes umgeht, die mit dem Leben nicht vereinbar ist: Also, was ist, wenn das Kind zwar lebend zur Welt kommt, aber danach verstirbt? Sagt man: Ich kann das nicht, ich möchte, dass vorher interveniert wird?
WELT: Ist Angst angebracht, wenn man hierzulande ein Kind zur Welt bringen möchte?
Abou-Dakn: Nein, man braucht sich definitiv keine Sorgen zu machen, in Deutschland ein Kind zu bekommen, nur weil es vielleicht in Italien eine geringere Rate an Totgeburten hat. Die Schwangeren-Versorgung ist in Deutschland hervorragend. Abgesehen davon ist die Zahl der Totgeburten – bezogen auf die Gesamtzahl an Geburten – sehr klein. Frauen sollten sich deshalb nicht unnötig Sorgen machen. Ich finde es schön, wenn die Schwangerschaft nach wie vor die Zeit der guten Hoffnung ist.