Langsam und konzentriert arbeiten sich die Männer Meter für Meter in den Wald hinein, Abstand haltend, um im Fall einer Explosion nur einen Verwundeten zu haben. Die anderen müssen noch in der Lage sein, den Verletzten abzutransportieren. Immer wieder piepen die Detektoren, dann bleiben die Männer stehen, stochern im Boden. Wladyslaw Wowtschenko beobachtet das Geschehen und horcht auf das Wummern der Artillerie. „Wir arbeiten hier unter Kampfbedingungen. Alles kann passieren. Wir müssen vorsichtig sein“, sagt der Kommandeur der Minenräumungseinheit.
Raum Lyman im Osten der Ukraine. Im Herbst 2022 befreien die ukrainischen Streitkräfte die Region, die zuvor von den Russen besetzt worden war. In dem Wald, in dem Wowtschenko und seine Männer an diesem kalten Wintertag arbeiten, lässt sich erahnen, wie heftig die Kämpfe damals waren. Auf dem Boden liegt schwarze Asche unter dem Laub, viele Bäume sind zerfetzt und verkohlt.
Kriegsreporter Jan Jessen begleitete die ukrainische Einheit hautnah, während sie sich durch den Wald kämpfte. In seinem Podcast „Im Krisenmodus“ spricht er mit den Männern, die täglich ihr Leben aufs Spiel setzen:
„Wir inspizieren den Wald, damit in Zukunft Holzfäller hierherkommen und Brennholz für die Zivilbevölkerung schneiden können, damit die Menschen ihre Häuser heizen und sich warmhalten können“, erklärt Wowtschenko. Hier kann alles Mögliche liegen. Nicht explodierte Streubomben , Raketen, Munition. „Dieses Gebiet war besetzt, und es gab hier Schlachten, sodass solche Dinge zu erwarten sind.“ Es ist eine Herkulesaufgabe, vor der er und seine Männer stehen.
Ukraine: Immer wieder kommen Menschen ums Leben, weil Minen detonieren
Der Krieg in der Ukraine geht jetzt ins vierte Jahr. Auch wenn jetzt möglicherweise verhandelt wird und es noch in diesem Jahr einen Waffenstillstand geben könnte, wird der Konflikt noch über Jahre und Jahrzehnte das Leben der Menschen beeinflussen. Hunderttausende sind an Seele und Körper verletzt, Städte und Dörfer liegen in Trümmern. Und in der Erde lauert der Tod.
Minenräumer, die in einem Wald bei Lyman arbeiten. Wladyslaw Wowtschenko ist der Leiter des Trupps.
© Artem Lysak | Artem Lysak
Die explosiven Hinterlassenschaften des Krieges sind eine tödliche Gefahr. Immer wieder kommen in der Ukraine Menschen ums Leben, weil Blindgänger oder Minen detonieren. Am 19. November beispielsweise sterben in Posad Pokrowsk, einem Dorf zwischen Cherson und Mykolajiw im Süden des Landes drei Männer, als sie einen Kanal reinigen wollen. Drei weitere werden verletzt.
Landwirte in frontnahen Gebieten klagen darüber, dass sie nur unter Lebensgefahr ihre Felder bestellen können. Laut einem Bericht der Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen war die Ukraine im Jahr 2023 das Land, in dem es die viertmeisten Minenopfer gab.
Ukraine: Ein Viertel des Landes könnte von Minen oder Blindgängern gefährdet sein
Besonders betroffen sind die umkämpften Regionen des Landes im Nordosten, Osten und Süden. Allerdings finden sich die nicht explodierten Kampfmittel auch in der Region Kiew , wo die russischen Streitkräfte im Frühjahr 2022 operierten. Mitte vergangenen Jahres schätzte die ukrainische Nationale Minenräumbehörde NMAA, dass etwa 156.000 Quadratkilometer und damit rund ein Viertel des Landes von der Verseuchung durch Minen oder Blindgänger gefährdet sein könnten. Das ist ein Gebiet der Größe von Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen.
Wladyslaw Wowtschenko und seine Männer schaffen es, an einem Arbeitstag etwa einen Hektar zu untersuchen. Es ist eine zähe und mühselige Kleinarbeit. Sie müssen ständig auf der Hut sein. Immer wieder sterben auch Minenräumer bei der Arbeit oder werden verletzt. Haben sie einen Pfad gesichert, binden sie Flatterband um die Bäume. Das zeigt den Zivilisten, dass es an dieser Stelle ungefährlich ist. An diesem Tag finden sie nur Schrapnelle und Reste von Raketen .
Wladyslaw Wowtschenko und seine Männer schaffen es, an einem Arbeitstag etwa einen Hektar zu untersuchen.
© Artem Lysak | Artem Lysak
In der 650 Kilometer entfernten Hauptstadt Kiew hat sich Oleksandr Prykhodchenko Gedanken darüber gemacht, wie er die Arbeit der Minenräumer erleichtern und das Leben von Zivilisten schützen kann. Er ist Inhaber einer Firma namens eFarm-Pro, die vor der russischen Invasion elektronische Werkzeuge für die Landwirtschaft hergestellt hat. „Aber als der Krieg begann, tauchten neue Herausforderungen auf, und es ging nicht mehr nur darum, Ressourcen zu sparen, sondern darum, Leben zu retten“, erzählt er in der großen Werkstatt seines Betriebs in einem Industriegebiet.
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Ukraine-Krieg: Ingenieur baut alten Traktor um – zu gewaltiger Minenräum-Drohne
Viele seiner Kunden aus der Landwirtschaft sagten ihm nach dem Beginn der Invasion, dass sie trotz des Krieges ihre Felder weiter bestellen wollten. „Sie wollten weiterarbeiten. Das hat sie enormen Risiken ausgesetzt.“ Also improvisiert Prykhodchenko. Er erfindet eine gewaltige Minenräumdrohne. „Die einzige wirkliche Lösung bestand darin, die Personen vollständig aus dem Fahrzeug zu entfernen, um absolute Sicherheit zu gewährleisten.“ Er und seine Leute bauen einen alten Traktor um, installieren einen Autopiloten, rüsten das Fahrzeug mit einer Fernbedienung aus. An einer Walze befestigen sie Stahlschlegel, die bei der Fahrt auf den Boden trommeln. Werden Minen oder Blindgänger getroffen, explodieren sie. Das Fahrzeug bleibt unbeschädigt.
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Der junge Ingenieur schwärmt von seinem Projekt. Es sei viel günstiger als herkömmliche Minenräumfahrzeuge und es einfach in der Bedienung. „Der große Vorteil von Traktoren ist, dass es in fast jedem Dorf jemanden gibt, der weiß, wie man sie wartet und repariert.“ Außerdem könnten Landwirte das Fahrzeug nach dem Krieg als normalen, automatisierten Traktor weiter nutzen. Aber der Preis für seine Landdrohne ist mit 130.000 Dollar noch immer enorm hoch. Deswegen setzt er jetzt auch auf die Produktion kleinerer Fahrzeuge.
Vor der Fabrikhalle steht eine Maschine, die wie ein großer Rasenmäher auf Ketten aussieht. Im Prinzip funktioniert sie auch so. „Pioniere hatten uns Bilder geschickt, wie sie beim Minenräumen die dichte Vegetation selbst schneiden müssen.“ Die Minenräumer sehen oft nicht, was unter dem Gras oder Büschen liegt. Es ist eine zusätzliche Gefahr für sie. Nicht nur für sie: „Als zum Beispiel Energiearbeiter in Cherson Stromleitungen reparieren wollten, mussten sie durch dichte Vegetation gehen, um den Standort zu erreichen. Sie sind ums Leben gekommen.“ Die Raupen-Drohne schneidet Gras und kleines Gehölz, ohne dass Menschen gefährdet werden.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Außerdem haben Prykhodchenko und seine Mitarbeiter eine Drohne gebaut, mit der verwundete Soldaten abtransportiert oder Munition und Lebensmittel an die Front geschafft werden können. Auch für Minenräumer könnte der kleine vierrädrige Karren nützlich sein, ist Prykhodchenko überzeugt. „Sie können da die nicht explodierten Sprengmittel reinlegen und sicher abtransportieren.“ In Lyman schaut sich Wladyslaw Wowtschenko Bilder der Erfindungen der Kiewer Bastler an. Er nickt anerkennend. „Ja. So etwas können wir brauchen. Es würde unsere Arbeit erleichtern.“ Heute ist Minenräumung für ihn seine Männer aber noch Handarbeit.
Drei Jahre Krieg
In der vorherigen Folge von „Im Krisenmodus“ spricht Jan Jessen mit Soldaten an der ukrainischen Front. Wie ist die aktuelle Lage an der Front? Sehen sie nach so langer Zeit noch Hoffnung? Wie kämpfen sie weiter?
Drei Jahre Krieg in der Ukraine: Müdigkeit, Wut, Durchhalten
Im Krisenmodus
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