Wirtschaft

Der Schweizer „Tatort: Kammerflimmern“ hat Systemausfall | ABC-Z

Die Schweiz und ihre Rekorde. Die kleinste Whiskybar der Welt will man besitzen, außerdem die längste Treppe. Bei der größten Sammlung an geklauten „Nicht stören“-Schildern konkurriert ein Schweizer seit Jahren eng mit einem Italiener. Jetzt wollte man offenbar wenigstens noch den Toten-Rekord in einem „Tatort“ hinzufügen: Mit 57 Verblichenen läge man nämlich vor den 54 Personen, die 2014 in der irren HR-Folge „Im Schmerz geboren“ das Zeitliche segneten. Aber etwas Schweizer Trickserei ist schon dabei, denn die Zahl wird lediglich genannt; zu sehen sind deutlich weniger Todesfälle.

Die Herstellerfirma wurde gehackt

Im Schmerz gestorben sind beinahe alle dieser armen Seelen. Ihr eingebauter Defibrillator, ein sogenannter ICD und zur Lebensrettung gedacht, gab ohne Vorwarnung einen so heftigen und anhaltenden Stromstoß ab, dass es sie von den Socken haute. Warum das passiert, klärt sich recht schnell: eine der Herstellerfirmen, geleitet von Kilian Berger (Elias Arens) und seinem für die technische Entwicklung zuständigen Bruder Simon (Martin Vischer), wurde gehackt. Das jüngste Update ihrer Geräte war infiziert. Um einen Wechsel auf die Vorversion zu unterminieren, legen die Hacker in einem zweiten Schritt die gesamte Technikabteilung der Firma lahm und spielen ihr eine üppige Lösegeldforderung auf die Bildschirme.

Geld ist in der Schweiz zwar auch rekordverdächtig viel vorhanden, aber bei 317 Millionen Dollar in Kryptowährung wird man auch in den Alpen knauserig. Dabei sind Tausende betroffen, und die Sterberate steigt stündlich. Der Handlungsdruck ist enorm. Dafür wirkt die zwischen der Kantonspolizei Zürich und übergeordneten Behörden abgehaltene Onlinekonferenz erstaunlich unaufgeregt. Die dunkel gebliebene Kachel in der Konferenz-App gehört zu einer nicht erschienenen Regierungsrätin; im Laufe des Gesprächs wird klar, dass auch sie einem künstlichen Infarkt erlag.

Die Kommissarinnen haben Zeit

Obwohl es um Minuten geht, machen die Kommissarinnen Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Tessa Ott (Carol Schuler) erst mal Raucherpause. Sie haben Zeit für solche Dialoge: „Wir müssen diese Hacker finden.“ „Und wie willst du das anstellen? Diese Typen könnten überall auf der Welt sein.“ „Nicht unbedingt.“ Die mit einer Musik (Léo Delibes „Blumenduett“) unterlegte digitale Lösegeldforderung hält Ott für eine „scheiß Mühe“; sie weiß nicht, dass jeder Teenager so etwas in Millisekunden erstellt. Jedenfalls sei das „mehr Emotion als Kalkül“. Nachfrage für Langsamversteher: „Du meinst, es ist persönlich?“ Für noch Langsamere: „Auf jeden Fall könnten die Täter näher sein, als wir denken.“

„Tatort: Kammerflimmern“ARD Presse

Der Rest des damit quasi gelösten Falls besteht aus wenigen parallelen Handlungssträngen: der Suche nach dem Hacker unter Konkurrenten und Mitarbeitern der Herstellerfirma, den panischen Aktionen desselben (die Zuschauer wissen nämlich mehr als die Schweizer Polizei); der Schnüffelei einer Online-Journalistin (Annina Walt), die einen Scoop wittert und dafür Panik zu schüren bereit ist. Und dann ist da noch die „scheiß Mühe“ Tessa Otts, ihre handylos in ein Retreat abgetauchte Mutter zu finden, die – Zufall über Zufall – auch ein infiziertes Cardio-Gerät trägt. Wir sehen diese Mutter (Babett Arens) wenig später in einer Wanne entspannen und in den Briefen zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch blättern, vielleicht auch das aus nationalem Stolz, schließlich wird der Schweizer gegenüber der Österreicherin durch diesen wunderbaren, vor drei Jahren erschienenen Band ein wenig rehabilitiert. Aber mutig ist es schon, den Titel („Wir haben es nicht gut gemacht“) so deutlich ins Bild zu halten.

Es ist ja nicht nur so, dass viele von Grandjeans Äußerungen so angestrengt klingen, als steige man die längste Treppe der Welt hinauf, überhaupt halten sich das Buch der Zürcher Krimiautorin Petra Ivanov und die Regie von Barbara Kulcsar eisern an eine Nullachtfünfzehn-Dramaturgie. Hin und wieder rennen die Ermittlerinnen falschen Spuren hinterher, aber oft starren sie nur hilflos ins Nichts, weil die Totenzahlen steigen und steigen. Man sieht jeder Figur an, welche Klischeerolle sie zu spielen hat; authentisch wirkt keine. Das private Involviertsein der Kommissarin ist eines von der Stange. Und was die tragische Liebe in Delibes Oper „Lakmé“, aus der das „Blumenduett“ stammt, mit der Handlung zu tun hat, bleibt so unklar wie im Falle der tragischen Liebe von Bachmann und Frisch. Mit viel gutem Willen geht es in allen Fällen um Herzeleid.

So bleibt nur die an sich starke Idee, dass eine datengetriebene Gerätemedizin neue Gefahren birgt; ein starker Thriller wird daraus nicht. „Kammerflimmern“ ist eher so etwas wie das audiovisuelle Pendant zu einem „Nicht stören“-Schild. Der gemütliche Schweizer Rundfunk fertigt eben am liebsten ausgeruhte Berichte über Alphornbläser-Weltrekordversuche an. Der letzte gelang übrigens vor einem Jahr auf der Klewenalp; na also, noch ein Rekord.

Der Tatort: Kammerflimmern läuft am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

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