Der nördlichste Bogenbauer der Welt | ABC-Z

Nummer 367 war ein schwieriger Fall. Als Armin Seebass die Arbeit aufnahm, die vermeintlich passende Stange aus rotbraunem Pernambukholz aus dem Regal in seiner Werkstatt zog und den Hobel zum ersten Mal über die Kanten gleiten ließ, lag der Schnee draußen meterhoch, und die Luft klirrte vom Frost.
Seebass hielt das Holzstück in seinen kräftigen Händen und glaubte einen Goldbogen vor sich zu sehen. So nennen Bogenmacher ihre feinsten Stücke, gefertigt aus bestem Material, perfekt bis ins Detail, mit ebenso viel Anspruch wie ihn die Musiker haben, die ihre Geigen, Celli oder Bratschen damit zum Klingen bringen.
Der nördlichste Bogenmacher der Welt
Um solche Bögen herzustellen, ist Seebass vor mehr als 20 Jahren an den Polarkreis gezogen, nach Salla im Norden von Finnland, wo der Winter lang ist und der Sommer kurz. Nördlichster Bogenmacher der Welt darf sich der gebürtige Hamburger seitdem nennen. Seine Kunden wohnen Hunderte, Tausende Kilometer im Süden. Schon die Fahrt nach Helsinki dauert zwölf Stunden.
In Deutschland gibt es etwa 50 Bogenmacher, in Europa vielleicht 200. Im Vergleich dazu gibt es unzählige Geigenbauer. Nach Salla zu ziehen, um Bögen zu machen, klingt erst einmal wie eine sehr abseitige Ortswahl für einen ziemlich abwegigen Beruf. Daraus wird aber eine Kette folgerichtiger Entscheidungen, wenn Armin Seebass in der Werkstatt eine Pause macht, die Lederschürze an den Haken hängt und am Esstisch nebenan zu erzählen beginnt.
Ein findiger Bürgermeister hat sich für Salla einst den Slogan „In the Middle of Nowhere“ ausgedacht, um Touristen anzulocken. Mitten im Nirgendwo. Seebass kam 1995 zum ersten Mal hierher, ohne große Pläne, für einen Besuch bei den Großeltern seiner finnischen Freundin, die später seine Ehefrau werden sollte.
Aber welcher Beruf floriert im Nirgendwo?
„Winter, Schneefall, Einsamkeit, ein starkes Erlebnis“, fasst er seine Erinnerung zusammen. Er war damals Mitte zwanzig. Seitdem habe er nirgendwo anders mehr leben wollen, sagt Seebass. Blieb nur die Frage, welcher Beruf ihm ein Leben im Nirgendwo ermöglichen würde.
Das Bogenmachen war fast zwangsläufig die Antwort. Seine Liebe zur Musik hatte Seebass nach eigener Auskunft schon entdeckt, als er zum ersten Mal „Drive My Car“ von den „Beatles“ hörte und nicht mehr davon lassen konnte, die Basslinie des Songs nachzuspielen.
Als er dann seine erste Runde auf Langlaufski in Salla drehte, hatte er zudem schon ein Studium und erste Berufserfahrung als Forstwirt hinter sich. Und er wusste: Dass er einen Berufsalltag am Computer auf sich zukommen sah, weil die meisten Forstwirte im Büro arbeiten und nicht im Wald, ödete ihn an. Ein Handwerk sollte es sein.
Niemand kommt nur zur Reparatur
Der Rest ergab sich. Die Forstwirtschaft, in Finnland allgegenwärtig, und der Instrumentenbau haben etwas gemeinsam. Bäume und Hölzer spielen eine entscheidende Rolle. Nur die Maßeinheiten sind unterschiedlich. Der Standort im Nirgendwo indes brachte besondere Erfordernisse mit sich: Es würde selten ein Musiker dorthin kommen, um seine Instrumente zur Reparatur zu bringen. Also konnte es nur um Neubau gehen.
Das war die erste Auflage für ein Leben in Salla. Einen Kontrabass oder eine Geige mit dem Paketdienst zu verschicken, ist ein Himmelfahrtskommando. Also konnte es nur um Bögen gehen, die selten mehr als 100 Gramm wiegen und in eine stabile, handliche Transporthülse passen. Das war die zweite Auflage.
Ganz so abgelegen, wie der Ort mit knapp 4000 Einwohnern es heute ist, war er noch nicht, als Seebass zum ersten Mal dort war. Damals gab es von Salla aus in alle Himmelsrichtungen viel mehr Nirgendwo zu erkunden. Das hat sich geändert, seit der Grenzübergang nach Russland, von der nördlichsten Bogenmacherwerkstatt der Welt keine 25 Kilometer entfernt, als Folge des Kriegs in der Ukraine geschlossen wurde. Jetzt liegt Salla am Rand des Nirgendwo.
Sehnsucht nach dem äußersten Norden
Das war nicht absehbar, als Seebass seine Lebens- und Berufsentscheidungen traf. Er lernte den Instrumentenbau in England, arbeitete bei Bogenmachermeistern auf der Isle of Wight, in Brüssel und in München. Im Gespräch am Küchentisch schwingt mit, welche Belastung seine Sehnsucht nach dem äußersten Norden für die Beziehung war. Bei ihm war sie größer als bei der Frau aus Finnland, die er im Forstwirtschaftsstudium kennengelernt hatte. Doch sie hielt durch. Und er zog es durch.
Sie arbeitet in der Forstgenossenschaft. Der älteste Sohn hat im Sommer sein Abitur gemacht, die beiden jüngeren Kinder gehen noch zur Schule. „Ich wusste, dass ich von Salla aus nur mit besonders hoher Qualität überzeugen kann, weil mir die Nähe zu meinen Kunden fehlt“, sagt Seebass. Es mussten also vorzugsweise Goldbögen werden, die ein paar Tausend Euro je Stück einbringen. Das war die dritte Auflage, die Salla an ihn stellte. Und dafür musste er sich mit allen drei klassischen Bogenmachertraditionen vertraut gemacht haben: der deutschen, französischen und englischen.

Der Zuwanderer aus Deutschland ist in Salla heimisch geworden. Die Musik half. Weil der Ort so klein ist, gibt es für jeden viel zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ein anderer macht, ist gering. „Man wagt hier mehr als in der Großstadt“, sagt Seebass. Er hat mit einer Beatles-Cover-Band, einer Tangokapelle und einer mit Stetsonhüten ausstaffierten Countryband zum Tanz aufgespielt. Das jüngste Projekt ist ein Bläsertrio. An Ostern gab es ein Konzert in der Friedhofskapelle, mit Stücken aus vier Jahrhunderten.
„Finnischer als viele Finnen“
Das eine sind die Menschen, das andere ist die Natur. Sie ist am Polarkreis lebensfeindlich. Man muss ihr jede Heiterkeit abtrotzen. Das sei ihm gerade recht, behauptet Seebass. Er geht auf die Elchjagd, schwärmt von der Sauna und vom Eisbaden. Zum Frühstück serviert er mit sichtlichem Vergnügen ein krümeliges Sauermilchgebäck samt Eibutter, eine rustikale Spezialität aus dieser Gegend. „Er ist finnischer als viele Finnen“, sagt die Querflötistin, die mit ihm und seiner Frau das Bläsertrio bildet.
Seebass selbst hat eine kleine Philosophie aus seinen Erfahrungen gemacht. „Das Leben zeigt sich in der Auseinandersetzung mit den rauen Dingen“, sagt er. Ist das nicht arg grimmig gesprochen? Er lässt die schmalen Augen funkeln und legt den Kopf schief. Er meint es freundlich. Ein bisschen Selbstmarketing gehöre immer dazu, sagt er.
Ein Leben im Schnee
In Salla liegt sechs oder sieben Monate im Jahr Schnee auf Bäumen, Dächern und Wegen, ein großer weißer Schalldämpfer. Dann ist es noch stiller als sonst. Gut für alle, die sich in ihre Arbeit versenken wollen. „Anfangs habe ich mit zwei Bögen im Monat kalkuliert und gedacht, ich würde mit der Zeit schneller“, sagt Seebass.
„Die Erfahrung hat mich aber nicht schneller, sondern langsamer gemacht. Weil ich gelernt habe, dass diese Arbeit mehr Zeit braucht, wenn ich sie richtig mache.“ Andernorts würde man sagen: Man kann das Gras wachsen hören. In Salla passt ein anderer Satz besser: Man kann das Holz reden hören. Jedenfalls mit den Ohren eines Bogenmachers.
Friemelarbeit darf nicht unterschätzt werden
„Manchmal ruft ein halb fertiger Bogen nach mir, wie ein Baby nach den Eltern schreit“, sagt Seebass. „Zu wissen, dass nur ich ihm helfen kann, ist ein zutiefst beglückender Zustand.“ Dann nimmt Seebass den Hobel, die Feile oder das Schleifpapier zur Hand. Friemelarbeit nennt er das.
Ein Bogen besteht aus der Stange, den Saiten aus Rosshaar und dem Aufsatz am hinteren Ende, dem Frosch, der die Behaarung hält und als Griffhilfe dient. Aus dieser simplen Grundform entstehen in der Werkstatt Einzelstücke, abgestimmt auf eine Musikerin oder einen Musiker mit der jeweils eigenen Spielweise, dem jeweils bevorzugten Klang. Es geht dabei um Zehntelmillimeter.

Seebass korrigiert einen Winkel, arbeitet eine Kante nach, verändert den Schwerpunkt. Bis das Holz nicht mehr um Hilfe ruft. Nur bei Bogen Nummer 367, mit dem er im arktischen Winter angefangen hatte, wollte das nicht gelingen. Seebass legte ihn zur Seite, erledigte etwas anderes, holte ihn wieder hervor. Das Schreien hörte nicht auf. Irgendwas war immer falsch.
Bogenmachern geht das Holz aus
Eine andere Sorge macht vielen Bogenmachern zu schaffen: Ihnen geht zusehends das Holz aus. Für Laien ist das schwer zu glauben. Finnland hat doppelt so viel Wald wie Deutschland. Das ist gut für Möbel, Papier und Pappe, sogar zur Treibstoffherstellung. Aber nichts davon eignet sich als Tonholz. Und schon gar nicht fürs Bogenmachen.
Das finnische Holz ist nicht fest genug, nicht dicht genug, nicht biegbar und schon gar nicht scherfest genug. Armin Seebass hat mit Elchschaufeln als Holzersatz experimentiert, das ging nicht einmal schlecht, aber für Profis war es auch nicht das Richtige.
Welcher Stoff eignet sich am besten?
Jeder Bogenmacher, mit oder ohne Forstwirtschaftsabschluss, kann im Schlaf über die Genetik der Bäume fachsimpeln, über den Einfluss von Wetter und Boden auf ihren Wuchs und über die Folgen für die Handhabung und den damit zu erzeugenden Klang, wenn aus dem Holz ein Bogen werden soll – der verlängerte Arm eines Musikers. Das Fazit lautet meist: Für die Stange, das größte Stück des Bogens, ist Pernambukholz das Nonplusultra; und für den Frosch führt an Ebenholz kein Weg vorbei.

Das macht die Sache kompliziert, denn die beiden Tropenhölzer stehen unter Schutz, und für Profimusiker in staatlich finanzierten Orchestern aus dem reichen Westen kommt es aus vielen Gründen nicht in Frage, zu tricksen und mit Holz von zweifelhafter Herkunft gegen die Bestimmungen zu verstoßen.
Für Ebenholz gibt es einen kleinen regulierten Markt. Für Pernambukholz nicht. Man kann es seit 2007 nicht mehr kaufen, ohne die Regeln zu brechen. Weil das Verbot nicht überraschend kam, haben sich viele Bogenmacher davor noch mit ihrem wichtigsten Rohstoff eingedeckt. Nun dürfen sie nur noch das Bestandsmaterial aufbrauchen, das sie 2007 schon im Inventar hatten.
Der eigene Vorrat nimmt auch ab
Das führt dazu, dass Armin Seebass ein Blick in das Regal in seiner Werkstatt genügt, in dem sein Vorrat lagert, um zu erkennen, wie lange er voraussichtlich noch in seinem Beruf tätig sein wird. Einige Dutzend rotbraune Stangen liegen dort noch. Er hat sie gleich zu Beginn seines Berufslebens gekauft, ordnungsgemäß mit Herkunftsnachweis.
Um das Geld dafür zusammenzubekommen, hat er extra noch eine Weile als Angestellter in einer Werkstatt gearbeitet und Schülerbögen gefertigt. Das war im Vergleich zu heute die reinste Akkordarbeit. „Ich habe dann alle meine Ersparnisse für das Holz ausgegeben und dazu noch einen Kredit aufgenommen“, sagt Seebass.
So ist das üblich unter Bogenmachern, sie zählen ihre Bögen und ihre Hölzer durch, notieren grammweise den Verbrauch. Wenn nichts mehr im Regal liegt, ist Schluss. Armin Seebass ist 55 Jahre alt. Sein Vorrat wird reichen, bis er ins übliche Rentenalter kommt.
100 Bäume im Jahr decken den Bedarf
Ob das jahrhundertealte Handwerk der Bogenmacher überhaupt eine Zukunft hat, ist eine ganz andere Frage. Sie treibt viele in der Branche um. „Wir suchen seit 40 Jahren erfolglos nach Alternativen“, sagt der Wiener Bogenmacher Thomas Gerbeth. Er hat mit einer Gruppe Gleichgesinnter in Brasilien mehr als 300.000 Bäume pflanzen lassen.
„Wir brauchen im Jahr etwa 100 Bäume, um den gesamten Bedarf aller Bogenmacher auf der Welt zu decken“, sagt er. Allerdings dauert es 50 Jahre, bis die Bäume erntereif sind. Und mit welcher Methode sich verlässlich nachweisen lässt, dass die Stange für einen Bogen wirklich aus einer der kontrollierten Pflanzungen stammt, ist noch nicht geklärt.

Armin Seebass glaubte vor ein paar Jahren, die Lösung auf einem anderen Weg erreichen zu können. Er hatte eine Mischung aus nachwachsenden Fasern ausgetüftelt, die er in einem Spezialverfahren zu Stangen presste. Die Maschine dafür konstruierte er mit dem Dorfschmied.
Eine eigene Erfindung
Seebass mietete eine Halle im Gewerbegebiet an. Dorthin verlegte er auch die Werkstatt, die er im größten Raum des Wohnhauses der Familie eingerichtet hatte, einer ehemaligen Apotheke an der Hauptstraße von Salla. Er ließ ein Logo entwerfen, stellte seine Erfindung auf der Instrumentenmesse in Cremona vor, ging auf Vertriebsreise nach Deutschland, gewann einen namhaften finnischen Geiger für das Projekt.
Es ging um Detailarbeit, wie beim Bogenmachen. Aber anders als in der Werkstatt lag das Ergebnis nicht allein in seinen Händen. Die Umstellung auf die Serienproduktion brachte unerwartete Schwierigkeiten. Die Musiker waren skeptischer als erhofft. Das Geld war knapp. Vor einem Jahr löste Seebass die Firma auf, ohne die große Zukunftsfrage seines Handwerks beantwortet zu haben. „Mir ist es lieber, ein Traum zerschellt an der Realität“, sagt er heute, „als dass ich ihm immer nur hinterherträume.“
Aus Nummer 367 wurde kein Goldbogen, nicht im Winter und auch nicht im Frühling. Alles Hobeln, Feilen, Friemeln half nichts. Menschen sind keine Maschinen, und Holz ist kein immer gleicher, sondern ein immer unterschiedlicher Werkstoff. Im Sommer, als in Salla die Tage kein Ende nehmen wollten, gab sich Armin Seebass geschlagen.
Um es auf seine Art auszudrücken: Sein Plan, aus dieser Stange aus Pernambukholz etwas Einzigartiges zu fertigen, war an der Realität zerschellt. Er machte den Problembogen trotzdem fertig. Lackierte und bespannte ihn. Nur ohne den höchsten Qualitätsanspruch, den er anfangs angelegt hatte. Ein solider Bogen für Geigenschüler ist daraus geworden. Und mit Nummer 368 lief es dann wieder ganz anders.