Der Mehrinplatz im Theater: Dem Platz eine Bühne | ABC-Z

taz | Jenin und Ines stehen in der Mitte des Mehringplatzes. Nicht der echte Platz, auf dem sie aufgewachsen sind, sondern seine durch Klebestreifen am Boden und Schilder nachgebildete Version im Haus 2 des Theaters Hebbel am Ufer. Sogar die große Uhr, die Apotheke und der Eingang zur U-Bahn an beiden Enden des Saals wurden aus Karton und Papier rekonstruiert. Die „Wiese“ soll bei der Mehringkiez-Nachbarschaftsfeier von den Gästen mit buntem Krepppapier in den Bastel-Workshops mitgestaltet werden.
Auf der Bühne im hinteren Teil des Platzes schieben sich die Kinder der Kurt-Schumacher-Schule hastig das Mikrofon zu, um die Fragen des Publikums zu beantworten. Zur Eröffnung des Fests wurde ihr Kurzfilm „Die Stadt hinter den Augen“ ausgestrahlt. Kaum ist der Applaus verklungen, stürmen die jungen Schauspieler Abbas und Assaq ins Foyer und stürzen sich auf die Nutella-Waffeln und das Popcorn.
Den beiden 12-Jährigen gefielen vor allem die Spezialeffekte des Films und der Dreh an einem Ort ihrer Schule, den sie bisher nur aus der Ferne kannten: die Baustelle. Sie ist fast so alt wie die Schüler selbst: Seit 2012 befindet sich die Schule in einem provisorischen Zustand, da es an Brandschutz fehlt. Die Schüler mussten jahrelang in Horträume ausweichen. Vergangenes Jahr demonstrierten die Kinder sogar mit ihren Eltern, damit der Bau endlich abgeschlossen wird. Bis heute gibt es immer wieder zu Platzmangel.
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Piotr Pietrus
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Jenin erinnert sich an ihre Zeit an der Galilei-Schule, damals „Konkurrentin“ der Kurt-Schumacher-Schule. „Wir hatten ein Schwimmbad und eine Sporthalle. Die von der Kurt-Schumacher mussten immer bei uns Sport machen! Wir waren cooler“, erzählt sie und lacht. Die 20-Jährige aus dem Mehringkiez schätzt das „Heimatgefühl“, das sie überkommt, wenn sie nach draußen geht und garantiert jemanden trifft, den sie kennt. Auch das Zusammenhalten und die Hilfe, die sie in ihrer Nachbarschaft erlebt, wenn die Kinder nach der Schule zur Kreuzberger Musikalischen Aktion e. V. gehen, machen des Kiez für sie aus.
Mit einer Flasche Traubensaft in der Hand unterhält sich Lisa vor dem Theater mit den Gästen der Feier. Der Auftritt der fünf etwa zehnjährigen Mädchen aus ihrem Hip-Hop-Workshop „Sisterhood“ begeisterte das Publikum im Theater Hebbel am Ufer. Seit vier Jahren leitet die Gründerin der Rapperinnengruppe Sisterqueens Rap-Workshops für Kinder.
Im Kiez fühlt sich die Neuköllnerin als willkommener Gast. Die Bewohner*innen seien herzlich und gastfreundlich. „Der Mehringkiez ist nicht so groß. Es geht eher in die Höhe“, scherzt die junge Frau mit den blau gefärbten Haaren. In die Tiefe geht es auch, wenn es um die persönlichen Hintergründe der Frauen geht, mit denen sie arbeitet. „Es gibt Migrationsgeschichten über Generationen hinweg … Viel Kultur, kollektives Gedächtnis auch.“
Freiraum für Fantasie
Zwischen rassistischen Erfahrungen und der Enge der Schule – Jenin mimt mit ihren Händen einen schmalen Durchgang – seien kreative Projekte ein Freiraum für die Fantasie der Jugendlichen. Bereits vor drei Jahren erzählte Jenin auf der Bühne des Theaters die Geschichte hinter ihrem Namen. Ihr Großvater war nur wenige Monate alt, als er aus der palästinensischen Stadt Jenin fliehen musste, bevor er nach Deutschland kam. Seitdem bewahrt er alle seine Dokumente und den Schlüssel zu seinem Haus auf. Jenin fragt sich, ob sie diesen Schlüssel irgendwann verwenden wird. Und ob ihr Großvater das noch miterleben darf.
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Piotr Pietrus
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Jenin blickt glücklich auf die Kufiya auf den Schultern einiger Gäste und die Binden, die über die Bühne gespannt sind. Im Raum hängen über dem gebastelten Mehringplatz grüne, weiße, schwarze und rote Tatreez, traditionelle palästinensische Stickereien, des Vereins Tatreez e. V.
In einer Ecke des Raumes liegen orangefarbene, schwarze und grüne arabische Kalligrafien auf dem Boden und warten darauf, zu trocknen. Auf dem Tisch des Kalligrafie-Künstlers stapeln sich die Tintenflaschen neben den Zeichnungen mit der strahlenden arabischen Kursivschrift. „Der Mehringplatz heute nach drinnen verlegt“ steht auf einer von ihnen steht in hübscher deutscher Schrift.
Ziad Sheno beschäftigt sich ununterbrochen damit, die Vornamen der Feiergäste aufzumalen. Rote Tinte fließt aus seinem Pinsel und gleitet über das Canson-Papier. Neben seinen Workshops in Neukölln leitet der irakisch-kurdische Künstler Kalligrafiekurse für Kinder im Stadtteilzentrum F1.
Als der Nachmittag zu Ende geht, fehlt ihm die Zeit, um den Vornamen einer letzten Nachbarin zu schreiben. Er zieht eine gelb-orangefarbene Kalligrafie aus seinem Papierstapel und hält sie ihr entschuldigend hin. „Farah“ steht darauf – „Freude“ auf Arabisch.
Im Saal des Hebbel am Ufer werden zwischen den Klebestreifen auf dem Boden bunte Gummis geklebt – mehr Blumen als auf der Wiese des echten Mehringplatzes. „Ich bin froh, genau dort aufgewachsen zu sein“, sagt Jenin. Wie in allen Nachbarschaften gäbe es auch dort Probleme und Auseinandersetzungen. Auch jahrelange Bauarbeiten, wie überall in Berlin.
Aus der Vielfalt der Geschichten und Kulturen entstehe jedoch etwas Neues. Und ja, vielleicht haben manche Familien nicht so viel Geld wie anderswo. Deshalb sind solche Treffen, von Konzerten über Orangenkuchen und Kaffee bis hin zu Workshops, kostenlos. Offen für alle, auch für diejenigen, die nicht vom Mehringplatz kommen. Denn „es gibt viele runde Plätze in ganz Berlin. Oder auch auf dieser Welt.“
















