Kultur

Der Web-Comic „Mutter und Tochter“ | ABC-Z

Immer noch dürfte „Vater und Sohn“ von e.o. plauen der berühmteste deutsche Comicstrip sein, und das fast neunzig Jahre nach seiner vergleichsweise kurzen Laufzeit, die sich von 1934 bis 1937 erstreckte, also in die NS-Zeit fiel – was die fortdauernde Begeisterung für die Serie nur noch bemerkenswerter macht.

Wobei Erich Ohser, der im Dritten Reich wegen seiner Vergangenheit als Karikaturist für die sozialdemokratische Presse der Weimarer Republik nur unter Pseudonym zeichnen durfte – deshalb e.o. plauen –, ein schreckliches Ende fand: Wegen Wehrkraftzersetzung vor dem Volksgerichtshof angeklagt, brachte er sich 1944 am Vorabend der Verhandlung in Untersuchungshaft selbst um. Am Folgetag wäre er zum Tod verurteilt worden – wie es dem mit ihm angeklagten Erich Knauf widerfuhr, der wenige Wochen darauf hingerichtet wurde. Die beiden Freunde hatten sich im Luftschutzbunker über Hitler lustig gemacht.

Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

Diese Tragödie hat „Vater und Sohn“ in der Rezeption den Ruf eines Widerstandscomics verschafft, obwohl Ohser ihn gewiss nicht so gedacht hatte. Zumal er zwar nie Nazi-Parteigänger, aber in seinen letzten Lebensjahren doch Stammkarikaturist der von Goebbels persönlich geleiteten Redaktion der Wochenzeitung „Das Reich“ war. Allerdings entspricht der tiefe Humanismus der „Vater und Sohn“-Geschichten gar nicht der NS-Ideologie, und dass Ohser seine Comicserie stumm anlegte, also ohne Dialoge, ersparte es ihm, die Lingua Tertii Imperii, wie Victor Klemperer den spezifischen Jargon des Dritten Reichs genannt hat, darin gebrauchen zu müssen. Ein Geniestreich. Und ein Grund dafür, dass dieser wortlose Comic heute noch so lesbar ist.

Fortsetzung folgt nun doch

Mit Ohsers Suizid hatte sich die Hoffnung auf eine Fortsetzung der von Beginn an sensationell erfolgreichen Serie zerschlagen. Und so dauerte es bis zum Ablauf der Urheberrechtsfrist von siebzig Jahren nach dem Tod Ohsers, ehe sich andere Zeichner daran versuchen konnten. Zu nennen ist hier vor allem Ulf K. (auch das ein Pseudonym: für Ulf Keyenburg). Der seit einem Vierteljahrhundert bestens etablierte Düsseldorfer Zeichner brachte in Zusammenarbeit mit dem französischen Szenaristen Marc Lizano 2015 und 2016 zwei Bücher mit neuen Abenteuern von Vater und Sohn heraus. Dabei bleib er Ohsers Grundprinzipien kongenial treu, wenn er auch die Handlung in die Gegenwart verlegte. Aber weiterhin blieb alles wortlos (das hat Ulf K. in seinen Comics eh schon immer geliebt), und es gab auch neben den beiden Hauptfiguren keine weiteren wichtigen Akteure.

Ganz im Stil des Originals: Birgit Weyhes gendervariierte Hommage an Erich Ohsers „Vater und Sohn“
Ganz im Stil des Originals: Birgit Weyhes gendervariierte Hommage an Erich Ohsers „Vater und Sohn“Birgit Weyhe

Dass wiederum diese männerbündische Konstellation aufgebrochen würde, war nur eine Frage der Zeit, und natürlich liegt es besonders nahe, aus „Vater und Sohn“ einfach „Mutter und Tochter“ zu machen. Birgit Weyhe, wie Ulf K. ein Star des deutschen Comics, machte 2017 den Anfang mit einer Hommage, die eine Ohser-Folge inhaltlich übernahm, aber nun eben weiblich besetzte. Der etwas unbekanntere Kollege Jannes Weber ließ dann vor einem Jahr gleich ein ganzes Buch mit Abenteuern von „Mutter und Tochter“ folgen, die er sich neu ausgedacht hatte. Auch er orientierte sich wie Weyhe stark am Stil der alten Serie. Doch die schönste Emanzipationsumzeichnung von „Vater und Sohn“ verdanken wir seit Kurzem Katharina Greve.

Eine Folge aus Katharina Greves „Mutter und Tochter“, eingestellt am 25. März
Eine Folge aus Katharina Greves „Mutter und Tochter“, eingestellt am 25. MärzKatharina Greve

Die 1972 geborene Berliner Zeichnerin hat Ende Februar ihren Web-Comic „Meine Geschichten von Mutter und Tochter“ begonnen und setzt ihn seitdem Woche für Woche mit einer neuen Episode fort: Vierzehn sind das bisher (die bisherigen findet man unter Meine Geschichten von Mutter und Tochter | Inhalt), insgesamt dreiunddreißig sollen es werden. Viel zu wenige! Das kann man nach etwas mehr als einem Drittel mit Recht beklagen.

Gegen die Arroganz der Umwelt

Dass Greve eine Künstlerin ist, die mit den Möglichkeiten von Web-Comics souverän umgeht, hatte sie schon 2016 mit „Das Hochhaus“ bewiesen, bei dem jede Woche ein neues Geschoss angefügt wurde, in dessen Räumen sich die Handlung weiterentwickelte. Dafür erhielt Greve damals den Max-und-Moritz-Preis auf dem Comicsalon von Erlangen. „Meine Geschichten von Mutter und Tochter“ sind auf den ersten Blick nicht derart originell, aber wie Greve den charakteristisch reduzierten Strich der Dreißigerjahre (nach dem Vorbild von George McManus aus den USA, dessen Zeitungscomic „Bringing up Father“ auch „Tim und Struppi“ inspirierte und von Ohser mit Sicherheit gelesen wurde, weil amerikanische Blätter mit der Serie im Berliner Presseclub auslagen) und den spezifisch ohserschen Humor beherrscht, das ist spektakulär anzusehen und zu lesen.

Greve rächt Ohser: Umgang mit NS-Symbolik, Folge vom 29. April
Greve rächt Ohser: Umgang mit NS-Symbolik, Folge vom 29. AprilKatharina Greve

Mutter und Tochter sind bei Greve wie Vater und Sohn bei Ulf K. in der Gegenwart zugange. Eine Pizzabestellung per Handy und Lieferdienst ins Restaurant, weil dessen Bedienung die Gäste vernachlässigt, oder ein witziges Vexierspiel mit einem gezeichneten Großbildschirm, dessen Darbietungen von uns Lesern im anfänglichen Close-up nicht als solche erkannt werden können, bis man in der abschließenden Halbtotale das Gerät sieht, vor dem Mutter und Tochter agieren, sind zeitgemäße Inhalte, die aber ganz im Geiste Ohsers stehen, indem die beiden Hauptpersonen sich gegen Arroganz oder Phantasielosigkeit ihrer Umwelt durchsetzen. Greve hat e.o plauen offenbar nicht nur genau im Kopf, sondern auch ins Herz geschlossen.

Jetzt wird Ohser gerächt

Teil 1 des Lockens und zugleich pünktlicher Aprilscherz: Mutter führt Tochter vom Genuss zur Arbeit, 1. April
Teil 1 des Lockens und zugleich pünktlicher Aprilscherz: Mutter führt Tochter vom Genuss zur Arbeit, 1. AprilKatharina Greve

Das wird auch deutlich in einer hinreißenden Doppelfolge aus dem April, in deren erster die Tochter von der Mutter mittels eines Tricks zum Müllwegbringen motiviert wird: Eine ausgelegte Spur aus Süßigkeiten führt zum vollen Abfalleimer – und aus anfänglicher Freude des Mädchens wird Frustration. In der Folgewoche dreht es dann den Spieß um und wendet denselben Trick an. Aber unter ganz anderen Vorzeichen: Hier wird aus Ärger Rührung, denn die Tochter legt Schmutzwäsche aus, die von der immer wütender werdenden Mutter eingesammelt wird, bis sie beim letzten Wäschestück vor einem ihr gewidmeten Blumenstrauß steht. Herzerwärmend. Und gerade im Nebeneinander der beiden Folgen auch pädagogisch wertvoll.

Teil 2 des Lockens und zwar noch im April, aber nicht mehr am klassischen Scherztermin (darum auch liebenswert statt boshaft): Tochter führt Mutter von der (vermeintlichen) Arbeit zum Genuss, erschienen am 8. April.
Teil 2 des Lockens und zwar noch im April, aber nicht mehr am klassischen Scherztermin (darum auch liebenswert statt boshaft): Tochter führt Mutter von der (vermeintlichen) Arbeit zum Genuss, erschienen am 8. April.Katharina Greve

Zugleich kann sich Greve dabei an Dinge wagen, die Ohser nie gezeichnet hätte: Unterwäschestücke etwa. Und sie kann Ohser rächen: Dass „Vater und Sohn“ 1937 von ihm beendet wurde, war auch eine Folge davon, dass die Nazis sich der beliebten Serie als Propagandainstrument bedienten; so musste Ohser etwa seine Titelfiguren zu Wahl- oder Winterhilfswerkwerbezwecken zeichnen – einzelne Hakenkreuze zogen dadurch in die sonst so harmlose Welt von „Vater und Sohn“ ein. Bei Greve gibt es nun auch Hakenkreuze, zweimal bisher sogar schon, und zwar als Wandschmierereien, die Mutter und Tochter mit schnellem Strich neutralisieren: einmal, indem sie das Hakenkreuz mittels Schraffur hinter Gitter bringen, beim zweiten Mal, indem sie es zu einem Tricktrack-Spielfeld ergänzen und dieses ausfüllen. Wunderbar einfach und graphisch grandios.

Was das Original nicht geboten hat

Was Greve anders hält als Ohser bei „Vater und Sohn“, ist die Variation der Umfänge. Die Zeichnerin nimmt sich bisweilen eine doppelte Panelzahl als die übliche, wenn die Handlung es erfordert. Sie arbeitet auch mit – sparsamem – Einsatz von Zusatzfarben. Und häufiger als Ohser benutzt sie Sprechblasen. Aber natürlich nicht mit Text, sondern mit Piktogrammen darin. Es ist verblüffend, was sich alles ungeschrieben sprechen lässt in „Mutter und Tochter“.

Die Vorfreude auf Dienstag, wenn jeweils eine neue Folge von „Meine Geschichten von Mutter und Tochter“ erscheint, ist groß. Schade, dass dieses Blog jeweils mittwochs erscheint: So müssen Sie noch sechs Tage auf Neues warten. Aber bis dahin ist ja erst mal vierzehnfach Altes zu lesen, das uns Geist und Witz von „Vater und Sohn“ neu nahebringt. Ich zumindest lese an jedem Dienstag ohnehin alle vorherigen Folgen noch einmal: weil so manches Motiv variiert wieder aufgenommen wird und weil die Geschichten so wunderbar leicht zu lesen sind. Zeitloses Vergnügen bei jeweils wenigen Sekunden Lesedauer.

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