Der Gamechanger, bei dem Deutschland dem Ausland zehn Jahre hinterherhinkt | ABC-Z
Die Pressemitteilung zum technologischen Durchbruch enthielt einen kaum versteckten Seitenhieb auf Deutschland. Ende Oktober gab das deutsch-schweizerische Unternehmen Mobility House eine Kooperation mit dem französischen Autoriesen Renault bekannt. Das Prinzip: Besitzer eines Renault 5 können die Batterie ihres E-Autos als Speicher bereitstellen. Die Batterie lädt dann Strom aus dem Netz und gibt ihn wieder dorthin ab – je nachdem, wie günstig oder teuer der Strom gerade ist.
Unter Fachleuten ist diese Technologie als „Vehicle to Grid“ (V2G) bekannt. Mobility House handelt dann mit dem Strom an den Börsen, den Erlös teilen Unternehmen und Kunde untereinander auf. Auf diese Weise soll das Fahren eines E-Autos kostenlos werden – ein potenzieller Gamechanger.
„Eine neue Ära“ – nur nicht in Deutschland
Das französische Pilotprojekt markiere „den Beginn einer neuen Ära“, heißt es in der Mitteilung von Mobility House, „Großbritannien folgt im Jahr 2025“. Und Deutschland? „Während Deutschland weiterhin seinen Ansatz zur Implementierung der V2G-Technologie evaluiert und entwickelt“, heißt es in der Mitteilung weiter. „Für die Umsetzung des kostenlosen Ladens sind in Deutschland noch die Voraussetzungen zu schaffen.“
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) soll nur wenig begeistert darüber gewesen sein, dass ein Unternehmen mit Sitz in München sein revolutionäres Projekt zusammen mit einem französischen Autohersteller durchführt – und nicht mit BMW, Volkswagen oder Mercedes. Aber auch Habeck weiß: In Deutschland ist die V2G-Technologie noch gar nicht umsetzbar. Technologisch und regulatorisch hinkt die Bundesrepublik hier hinterher.
Smartes Unwissen
Für die Umsetzung der Technologie müssten zum einen rechtliche Hürden aus dem Weg geschaffen werden. Auf das Laden und Entladen sind Stand jetzt zum Beispiel doppelte Netzgebühren fällig, was viele Geschäftsmodelle durchkreuzt. Viel komplizierter jedoch: Für V2G benötigen der Autobesitzer oder die -besitzerin einen sogenannten Smartmeter, also einen digitalen Stromzähler, der in Echtzeit den eigenen Stromverbrauch sowie die Preise auf dem Strommarkt lesen kann.
Die Geräte ermöglichen sogenannte dynamische Stromtarife, durch die das E-Auto zum Beispiel immer dann geladen wird, wenn der Strom besonders günstig ist. Verbraucherinnen und Verbraucher sparen somit bares Geld. Die Energiewende würde somit nicht immer nur zum Kostenfaktor werden, sie würde die Stromrechnung sofort spürbar verringern.
In Deutschland sind nach Daten der Bundesnetzagentur jedoch nur ein Prozent aller Haushalte mit einem Smartmeter ausgestattet – in Frankreich und Italien liegt der Anteil bei mehr als 90 Prozent, in den skandinavischen Ländern beträgt er sogar 100 Prozent. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsportals Yougov aus dem September wissen 60 Prozent der Deutschen nicht einmal, was ein Smartmeter ist.
Die nur schleppende Verbreitung der Smartmeter plus der eingebrochene Markt für E-Autos machten auch Mobility House in diesem Jahr zu schaffen. Im Sommer gab das Unternehmen eine „Umstrukturierung“ bekannt, der dem Vernehmen nach ein Drittel aller Stellen zum Opfer fiel. Aus dem Firmen-Umfeld heißt es, man blicke dennoch optimistisch auf das Jahr 2025, schließlich gebe es weltweit einige attraktive Märkte: Frankreich etwa, Großbritannien, auch Südostasien, selbst die USA trotz Donald Trump.
Deutschland kommt in der Aufzählung nicht vor.
„Man hat es sich halt mal überlegt“
Groß ist die Angst in der Bundesrepublik vor dem Ende der heimischen Stahlindustrie, den Umwälzungen für den Verbrennungsmotor, dem schleichenden Niedergang der Chemiebranche. In all der berechtigen Sorge um die Industriezweige der Vergangenheit und Gegenwart scheint Deutschland jedoch beinahe unbemerkt einen der größten Zukunftsmärkte überhaupt zu verschlafen. Warum?
„Ich bin jetzt seit zehn Jahren in der Branche, und dieses Thema quält die Branche schon seit über zehn Jahren“, sagt Jannik Schall, Mitgründer des Hamburger Energieanbieters 1Komma5. Das mit mehr als einer Milliarde Euro bewertete Start-up verkauft Solaranlagen, Wärmepumpen, Stromspeicher und Wallboxen – die deutschen Kinderkrankheiten rund um digitale Stromzähler kennt Schall nur zu gut.
„Es ist vor allem ein Digitalisierungs-Defizit“, sagt Schall. Die deutschen Smartmeter-Probleme hingen auch mit einem technologischen Sonderweg zusammen, dem sich die Bundesrepublik verschrieben habe. „Wir wollten, dass die Dinger nicht nur Messwerte liefern, sondern auch in die andere Richtung Signale senden und Anlagen steuern können“, erklärt Schall. „Da hat kein einziger Netzbetreiber einen Plan, wie sie das machen wollen. Aber man hat es sich halt mal überlegt.“
Im Ausland seien niedrigere Anforderungen gestellt worden. In Deutschland jedoch, so Schall, „hat man einfach massiv zusätzliche Komplexität aufgebaut. Das sind so Sachen, die wir – wenn ich das mal so offen sagen darf – schlecht gemacht haben.“
Die Pflicht, die nicht funktioniert
Schon seit 2007 arbeitet die Bundesregierung am Aufbau einer Smartmeter-Infrastruktur, und eigentlich sollte 2025 das Jahr werden, in dem alles anders wird. Ab nächstem Jahr nämlich sind die deutschen Stromversorger verpflichtet, sogenannte dynamische Stromtarife anzubieten, mit denen Verbraucher von den Schwankungen auf dem Strommarkt profitieren können. Zusätzlich sollen Haushalte den Einbau eines Smartmeters von ihrem Versorger verlangen können, für Großverbraucher – etwa Häuser mit Solaranlagen – wird er sogar Pflicht.
Wie das ab nächstem Jahr funktionieren soll, weiß allerdings niemand so recht. Denn bereits jetzt ist klar, dass die Anbieter und Netzbetreiber den sogenannten „Rollout“ kaum bewältigen werden können. Es fehlt an Fachkräften, an Know-how, auch an der Motivation. Denn für die Betreiber lohnt sich der Einbau eines Smartmeters kaum. Aus der Perspektive eines Stadtwerks sind die neuen Tarife komplexer und weniger einträglich – zumal die Gebühren für den Einbau der Stromzähler gesetzlich gedeckelt sind.
Die „Abteilung für verpasste Chancen“
Im Bundeswirtschaftsministerium überlegt man daher schon, den Ausbau zu bremsen. Im Oktober kursierte im politischen Berlin der Entwurf einer neuen Verordnung, der den Netzbetreibern mehr Zeit eingeräumt hätte. Demnach hätten vor allem Haushalte mit größerem Verbrauch bevorzugt werden sollen, bei anderen Nutzern hätte den Betreibern das Recht zugestanden, den Antrag abzulehnen.
Und selbst bei den größeren Verbrauchern hätten die Netzbetreiber bis 2032 Zeit gehabt. Das wären zehn Jahre, nachdem viele andere europäische Länder ihren Smartmeter-Rollout schon abgeschlossen haben. Dann finde man die intelligenten Messsysteme “wohl nur noch im Museum – in der Abteilung für verpasste Chancen“, ärgerte sich Oliver Koch, Chef des Speicher-Anbieters Sonnen, damals im „Spiegel“.
„Da wird es eine absolute Katastrophe“
An der vordersten Front, in den Heizkellern der Deutschen, ist das Ergebnis jedenfalls Chaos. Bei den 850 verschiedenen Netzbetreibern „gibt es welche, das passt es ganz gut“, sagt Schall, aber: „Es gibt auch welche, da wird es eine absolute Katastrophe.“
Teilweise fehle es an grundlegenden digitalen Prozessen, bemängelt Schall. „Es kommt öfter vor, dass die Daten einfach nicht nicht von A nach B fließen. Ich würde sagen, es kommt bei einem guten zweistelligen Prozentsatz im mittleren Bereich unserer Kunden vor, dass der Netzbetreiber sagt: Nein, da ist gar kein Smartmeter. Obwohl da nachweisbar einer hängt und wir den auch ordnungsgemäß angemeldet haben. Das sind solche Dinge, wo man einfach nicht weiterkommt.”
Lukrative Gelegenheit
Dabei zeigte erst die letzte Woche, wie wichtig ein schneller Ausbau der digitalen Stromzähler wäre. Die Dunkelflaute vom Donnerstag ließ die Strompreise in Deutschland und Mitteleuropa kurzfristig ums Zehnfache in die Höhe schießen. In den wenigen Tagen des Jahres, wo weder Windräder noch Solaranlagen liefern können, sind Energiespeicher wichtig, um die entstehenden Preisspitzen abzufedern. Diese Batterien stehen bereits zu Tausenden in den Garagen der Deutschen – sie können nur noch nicht zu diesem Zweck benutzt werden.
Die Sorge in der Branche: Dass Dunkelflauten-Tage wie am Donnerstag die Erzählung verstärken, Erneuerbare Energien machten den Strom teurer – obwohl ihre Erzeugungskosten im Vergleich zu den Alternativen nachweisbar niedriger sind. “Um klar zu machen, dass die Erneuerbaren unseren Strom günstiger machen, sind dynamische Tarife und Smartmeter der Schlüssel”, glaubt Schall. “Wir haben auch Kunden, denen ist das egal mit dem erneuerbaren Strom. Die sehen einfach: Ich habe hier eine Möglichkeit, inflationsfrei über 30 Jahre meinen Strom selber zu produzieren. Ab fünf Cent die Kilowattstunde, das kommt einfach von meinem Dach. Und dann kriegt man auch noch einen dynamischen Tarif, mit dem ich zusätzlich sparen kann. Wieso sollte ich das nicht machen?”
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