Der coolste Rock-Opa der Welt? Lenny Kravitz in der Olympiahalle | ABC-Z

Auch nach mehrmaligem Nachrechnen stand am Ende die gleiche Zahl: 60. Dieser Mann, der auf der Bühne gerade hocherotisch seine lange Afro-Frisur schüttelte und sich wild an seine Gibson Flying-V-Gitarre schmiegte, soll wirklich schon 60 (in Worten: sechzig) Jahre alt sein? Der mit seiner Mega-Sonnenbrille, engen Schlaghose und unverschämt viel Hüftschwung locker in einem Café in der Maxvorstadt als Langzeitstudent durchgehen könnte? Wie schafft er das? Vielleicht lag die Auflösung dieses Phänomens irgendwo zwischen Nostalgie und Ewigkeit. Diese Zeitspanne bespielte Lenny Kravitz bei seiner „Blue Electric Light“-Tour in der ausverkauften Olympiahalle mit krachenden Gitarrenriffs, souliger Stimme und seinen Rock-Hymnen. Aber was war er denn nun: Groove-Gott oder Gitarren-Greis? Der Funke benötigte jedenfalls eine Weile, bis er übersprang – weniger wegen Kravitz selbst, sondern der Setlist.
Zweifel am eigenen Zeitgefühl
Denn mit dem US-Amerikaner ist es wie mit seinen größten Hits: „Fly Away“ oder „American Woman“ – sie klangen auf der Bühne alle noch so frisch, als wären sie erst gestern erschienen. Dass sie mittlerweile auf keiner guten 90er-Party-Playlist fehlen, ließ einen an diesem Abend gleich zum zweiten Mal am eigenen Zeitgefühl zweifeln. Sie hielt den Star (und vielleicht auch die Fans zusammen) jung. Und wer im Rocker-Leben alles gesehen hat, der hat vor allem eins nicht mehr: Eile.
© Jens Niering
von Jens Niering
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Eine halbe Stunde extra nahm sich der „Minister of Rock ’n’ Roll“ Zeit, bevor er mit großem Knall zu „Bring It On“ aus dem Bühnenboden empor schwebte. War der Ansturm vor dem Tourbus am Hotel in der Altstadt der Grund für die Verspätung? Die Fans drängten sich zur Tür, aus der der Megastar lässig Autogramme gab. Während des Konzerts machte er keine Anstalten, die Zeit wieder reinzuholen. Immer wieder gab es Ansagen, die sich etwas in die Länge zogen oder mitten im Satz mit Kunstpausen verlängert wurden. Vielleicht gönnte er sich so einfach eine kleine Verschnaufpause. Auch seine sieben Mitmusiker bedachte der US-Star mit genügend Takten für Soli. Harold Todd durfte bei „TK421“ sein Talent am Saxofon zeigen. Gitarrist Craig Ross schnappte sich bei „Stillness of Heart“ die Akustikgitarre, während die Münchner die bekannten Zeilen sangen.
Insekten-Sonnenbrille und eine freundschaftliche Umarmung
Kravitz selbst agierte als stilvolles Klang-Chamäleon: die lässige Eleganz eines David Bowie, wenn er nach seiner Piano-Session zu „I‘ll be waiting“ auf der Showtreppe lümmelte. Die soulige Wärme eines Marvin Gaye. Die gitarristische Wucht eines Slash und der spirituelle Idealismus eines Bob Marley – alles vereint in einer Person.

© Jens Niering
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Auch die besagten Mega-Hits hatten keine Eile. Die erste Stunde des Konzerts zog sich etwas, weil die Setlist die großen Hits wie „It Ain’t Over ‚Til It’s Over“ und „Are You Gonna Go My Way“ in einem Stück ans Ende packte.
So konnte man sich an den immer noch fitten Bewegungen des Sängers sattsehen. Sein Regisseur, der für die riesengroße Leinwand verantwortlich war, kramte den ganzen Abend in der Schublade mit den speziell gesättigten Video-Filtern. Bei „Always on the Run“ wirkte er mit der Mega-Sonnenbrille wie ein überdimensioniertes Insekt. Er setzte sie nur mit extra bedachter Pose ab, um in die Zuschauerränge zu blicken. Dabei entdeckte er in der ersten Reihe seinen Voract, den nigerianischen Musiker Seun Kuti. Der vierfache Grammy-Preisträger holte ihn für eine freundschaftliche Umarmung auf die Bühne und schickte ihn danach direkt wieder in den Zuschauerraum. So grüßt man sich im Kravitz-Universum.
Und auch sonst hatte er den kompletten Baukasten der Mega Rockstars parat. Mit einem Handtuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn – und aus dem Schritt –, bevor er es lässig ins Publikum schleuderte. Als eine Zuschauerin in der ersten Reihe einen „Lenny“ Sprechchor anzettelte, stieg der Star herunter zu ihr für eine extra lange Umarmung. Natürlich perfekt ausgeleuchtet und von Kameras begleitet. Denn so alt seine Hits sind, so lange ist er auch schon auf den Bühnen dieser Welt unterwegs. Jede Bewegung sitzt – auch mit 60 Jahren. Eine Show zwischen Rampensau und Rockrente. Ein Künstler ohne Verfallsdatum.