Der Besuch der alten Bibel | ABC-Z

Der Besuch einer alten Dame in Delémont im Jura. Eine weitere, tragische Komödie: ein Wälzer mit 1200 Jahren Geschichte. Nahezu 1000 Seiten, 22 Kilo schwer. 53 cm hoch. 40 cm breit, 13.5 cm dick.
Ich rede von der berühmten Bibel von Moutier-Grandval, dem längst zerstörten Kloster im Jura.
Moutier-Grandval wurde etwa 640 von irischen Missionaren gegründet. Der heilige Germanus von Trier wurde zum ersten Abt bestimmt. Zunächst lebten die Mönche nach den Regeln des heiligen Columban, ab dem 9. Jahrhundert wurde die Benediktinerregel eingeführt.
Zu Beginn war das Kloster Moutier-Grandval eine in sich geschlossene Gemeinschaft vom Mönchen. Rudolf III. von Burgund schenkte 999 das Kloster dem Basler Bischof (weil Rudolf fest an den Weltuntergang im Jahre 1000 glaubte). Ab dem 11. Jahrhundert wurde die Gemeinschaft zu einem Chorherrenstift. Nicht mehr als 12 Prälaten, meist von adliger Herkunft, die nicht in Gemeinschaft zusammen leben mussten und persönlichen Besitz anhäufen durften. Das eigentliche Kloster wurde um das Jahr 1000 aus unbekannter Ursache zerstört und nicht wieder aufgebaut. Die Abtei spielte jedoch weiter eine wichtige Rolle in der religiösen und kulturellen Entwicklung der Region.
Entgegen ihres Namens entstand die Bibel nicht im Kloster Moutier, sondern in Tours, etwa 250 km von Paris entfernt. Sie ist eines der Zeugnisse der karolingischen Renaissance, angestossen vor allem durch Kaiser Carolus Magnus. Die Karolinger prägten vom 8. bis ins 10. Jahrhundert die westliche Hemisphäre. Karl der Grosse führte kulturelle und politische Reformen durch, wie z.B. die Förderung der Bildung und die Einführung neuer organisatorischer Strukturen. Die Schaffung gemeinsamer Werte für das ganze Christentum stärkte den Zusammenhalt des riesigen Reiches. In diesem Zusammenhang entstand im Jahr 796 in Tours das Skriptorium St. Martin, eine Schreib- und Buchmalerei-Werkstätte, in welcher die biblischen Urtexte überarbeitet und in kunstvoll gestalteten Unikaten von Hand beschrieben und bemalt wurden. Aus den Werkstätten in Tours sind weltweit noch etwa 50 Exemplare erhalten geblieben. Das schönste noch erhaltene Exemplar ist die Bibel von Moutier-Grandval, wohl weil sie nur selten gelesen wurde.
Diese Bibel wurde zwischen 820 – 830 erschaffen. Ihre Anfertigung dauerte mehrere Monate. Allein für die Vorbereitung der Pergamente wurden rund 220 Schafshäute benötigt. Man geht davon aus, dass bis zu 24 Mönche gleichzeitig mit Schreiben und Malen einer Bibel beschäftigt waren. Wunderschön wie Zierinitialen, Titel und Untertitel gemalt sind. Der Textkörper ist in karolingischen Minuskeln geschrieben. Ein zentrales Element der Reform Karls des Grossen. Die Klarheit dieser Schrift mit abgegrenzten Buchstaben und Abständen zwischen den Wörtern erleichterte die Kommunikation im ganzen Reich,

Wann und wie die Bibel ihren Weg nach Moutier gefunden hat, ist nicht eindeutig geklärt, man vermutet, dass sie der Abtei im 9. Jahrhundert als Prestigeobjekt geschenkt wurde. Ein nachträglicher Eintrag aus dem 16. Jahrhundert weist darauf hin, dass die Bibel damals noch in Moutier war. Danach verlor sich ihre Spur bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts.
Denn die Zeiten waren den gut betuchten Chorherren nicht hold. Die erste grosse Umwälzung war die Reformation. Kurz bevor aufgebrachte Bauern die Stiftskirche zerstörten, konnten die Chorherren ihre mobilen Besitztümer ins katholische Solothurn retten. Ein Jahr später liessen sie sich definitiv in Delémont nieder, im Herrschaftsbereich des Fürstbischofs von Basel.
Die französische Revolution brachte weiteren Unbill. Kurz vor dem Einmarsch der französischen Truppen, 1792, flohen die Chorherren erneut nach Solothurn. Doch die französische Besetzung des Fürstbistums Basel bedeutete die faktische, das napoleonische Konkordat mit Papst Pius VII. die juristische Aufhebung des Stifts. Das Fürstbistum Basel wurde 1800 dem Département Haut-Rhin einverleibt und der Stift Moutier-Grandval 1802 aufgelöst.
Während dieser Wirren wurden der Schatz und die Archive von Moutier-Grandval aufgelöst, verschoben, verhökert, versteckt oder ging verloren.
Als die Franzosen definitiv weg waren, tauchte die Bibel auf einem Delsberger Dachboden wieder auf. Nach einem zeitgenössischen Bericht wurde sie 1812 „von zwei alten Jungfern“ für 2 Batzen (etwa 10 Franken) dem ehemaligen Bürgermeister der Stadt zum Kauf angeboten. 1822 wurde die Bibel an einen Basler Antiquitätensammler für 24 Louisdor verkauft. Dieser erkannte den Wert des Buches, erstellte ein Dossier und bereiste damit halb Europa. Schliesslich gelang es ihm, das Buch der British Library zu verkaufen.
Und da blieb sie nun, bis das Musée d’art et de l’histoire in langjährigen, zähen Verhandlungen sich das Buch für drei Monate ausleihen durfte. Mit strengsten Sicherheitsvorkehrungen natürlich. 5 Personen durften den „heiligen“ Raum für 5 Minuten betreten. Nach elektronischer Voranmeldung in vorgegebenen Zeitfenstern. Der Besucherandrang war riesig. Wir hatten Glück und erhielten am letzten Tag der Ausstellung noch 2 Eintrittskarten.
Eine didaktisch sehr gut gestaltete und reichhaltig dokumentierte Ausstellung, die die Reise des Buches in Etappen darstellt. Daneben sind weitere Bibeln aus den Skriptorien St. Martin und der Abtei Marmoutier in Tours ausgestellt.

Nun ist die weitgereiste Dame (lateinisch biblia, weiblich) wieder in London.
Für die wenigen Leser, die bis hier durchgehalten haben, gibt es noch zwei Zückerchen: Eine der 5 ganzseitigen Illustrationen : Erschaffung und Vertreibung von Adam und Eva. Nicht ganz jugendfrei. Mit dieser Geschichte aus der Genesis fing bekanntlich das Elend der Menschheit an.

Wenige Wochen später besuchten wir Moutier für eine andere Bibelstory: die Geschichte von Nebukadnezar aus dem Buch Daniel, in Musik gesetzt von Giuseppe Verdi, Nabucco. Inszeniert und aufgeführt in Moutier von einem kleinen Ensemble lokaler und internationaler Künstler. Im alten, historischen Schützenhaus zu Moutier. 200 Plätze. Wir waren begeistert und haben uns die Aufführung zweimal hintereinander angesehen bzw. angehört.

Dazu, drei Nummern grösser, der Auszug aus einer Aufführung in Verona 2018, welche die biblische story in die Zeit des Risorgimento versetzte. Amartuvshin Enkhbat singt den Nabucco als k.u.k Generalissimus.
Quellen:
Historisches Lexikon der Schweiz: Moutier-Grandval
Flyer Musée jurassien d’art et d’histoire zur Ausstellung