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Der Bär mit Spatzenhirn: Katja Lange-Müllers „Unser Ole“ | ABC-Z

Der Epilog dieses Buches erinnert an Alfred Döblin: Nachdem sich die Spur des Protagonisten, eines „kognitiv beeinträchtigten, autistischen Jungen“, verloren hat und man nicht einmal weiß, ob er noch lebt, fügt die über dem Geschehen schwebende Erzählstimme noch hinzu, sie hoffe, dass der Junge es bis in eine Großstadt geschafft habe, und warum nicht nach Berlin: „Dort gibt es so viele, auch solche von seiner Art, die sich irgendwie durchschlagen, gemeinsam oder allein, da fällt einer mehr gar nicht auf.“

Der besagte Junge, der dem Buch den Titel gibt, „Unser Ole“, ähnelt dem Gewaltmenschen Franz Biberkopf nur entfernt, aber, so ist zu befürchten, in einem entscheidenden Punkt: Er hat mit seinen rohen Kräften womöglich ein Leben ausgelöscht. Jedenfalls liegt nach vierzig Seiten Oles Oma Elvira tot am Treppenabsatz, und oben steht, „flunderflach“ und „gipsbleich“, Ole, den Elviras Freundin Ida gleich verdächtigt: „Ole, denkt sie, der Bär mit dem Spatzenhirn, hatte mal wieder einen Wutanfall.“

Hinter der Drastik steht die soziale Frage

Was die Figuren denken und sagen, ist, wen sollte das in einem Buch von Katja Lange-Müller wundern, oft knallhart und sarkastisch, teils menschen­verachtend, wie das Zitat zeigt. Um noch zu verdeutlichen, dass es sich um aus­gestellte Figurenrede handelt, nennt die Erzählstimme im Epilog das Werk ausdrücklich ein „Prosadrama“: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass hier das Hässliche und Böse der Menschen drastisch ausgestellt und theatralisch verdichtet werden soll.

Katja Lange-Müller: „Unser Ole“. RomanKiepenheuer & Witsch

Hinter der Drastik steht die soziale Frage, die sich bei Katja Lange-Müller oft stellt, gerade in Bezug auf Außen­seiterfiguren und oft auf humoristische Weise; hier nur eben so, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Immer deutlicher wird durch die Sicht der Per­spektiv-Figur Ida, der in Berlin wegen Eigenbedarfs die Wohnung gekündigt wurde und die in Altersarmut Zuflucht in Elviras Landhaus findet, dass auf diesem Haus kein Segen ruht. Das Aquarell auf dem Buchcover tunkt es in Poe-Schwärze, die schon den Niedergang durchs Papier sickern lässt; die ersten Sätze zitieren noch einen hoffnungsvollen alten Schlager („Kleines Haus am Wald, morgen komm ich bald“), aber aus der von Ida erhofften fidelen Dreier-WG der zwei Omis mit Ole wird nichts. Denn selbst der als gefühlskalt beschriebenen Ida läuft ein Schauer den Rücken herunter angesichts der „immensen Kälte, mit der die andere über ihre Tochter und sogar ihren Enkel sprach“: Elvira entpuppt sich als Monster, das mit Schönheitsoperationen die innere Hässlichkeit zu kaschieren sucht.

Furchtbare Frauenbilder

Die eigentliche Geschichte des Buches ist die von Elvira und ihrer Tochter Manuela, Oles Mutter. Ein Motto des Buches, „Ja, ja, immer sind die Mütter schuld“, stammt aus dem Mund einer Psychotherapie-Patientin. Unter der Spitze des Ole-Dramas schlummert der Eisberg einer Gesellschaftskritik der DDR, insbesondere ihrer Familien- und Mutterbilder. Es deutet sich an, dass durch Elviras Schuld Oles Geburt verzögert wurde, während der er dann Sauerstoffmangel erlitt. Die Mutter hatte eine Wochenbettdepression und sah das Kind nach dem ersten Jahr nicht wieder, entwickelte aber die „Lebenslüge“, irgendwann zu ihm zurückzukehren.

Manuelas Leidensgeschichte offenbart furchtbare Frauenbilder, induziert durchs Patriarchat – und vor allem ein Muster, von der Oma über die Mutter bis zum Sohn: dass nämlich die Opfer zu Tätern werden. So wird das Drama, ausgewiesen als „Roman“, auch zum Krimi. Der Buchtitel ist aber nicht nur als Figurenrede zu verstehen: „Unser Ole“ klagt ein Kollektiv an, und nicht nur das der DDR.

Katja Lange-Müller: „Unser Ole“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 230 S., geb., 24,– €.

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