Dem Gitarristen Ritchie Blackmore zum Achtzigsten | ABC-Z

Auf dem sechsten Studioalbum von Rainbow, der Band, die Ritchie Blackmore nach seinem ersten Ausstieg bei Deep Purple 1974 gegründet hatte, auf „Straight Between The Eyes“ aus dem Jahr 1982, findet sich der Song „Stone Cold“. Seine Struktur ist simpel und gemahnt ein wenig an Foreigner – schlicht instrumentiert, auf Radiotauglichkeit gebürstet, den musikalisch weithin schauderhaften, sterilen Achtzigern gemäß –, und in die Mitte pflanzt Blackmore ein zum Niederknien schönes Solo aus einer abfallenden Bending-Linie und aufsteigenden Stakkatos hinein, gekrönt von ein paar klagenden Singlenotes und einem Triller. Da singt jemand, ohne den Mund aufzumachen. Er hat ja sechs Stahlsaiten.
Eine vierminütige Epiphanie
Nun ja, Gott. Man soll den Namen des Herrn nicht missbrauchen. Aber was, bitte, ist denn der improvisierte Blues auf Rainbows Liveplatte „On Stage“ (1977) anderes als eine vierminütige Epiphanie? Diese Verschmelzung von Tonfolgen aus Seide, weich, voll und klar, kulminierend in perlenden lautmalerischen Exaltationen, die an „Strange Kind Of Woman“ auf „Made In Japan“ von Deep Purple erinnern, dem in den Augen nicht weniger bis heute unerreichten Rockkonzertmitschnitt, den die Band Dream Theater mal eins zu eins kopierte – und dabei in Ehren scheiterte?
Ein Ton, und man hört, dass er es ist
Ritchie Blackmore ist nicht replizierbar. Der introvertierte, scheue, von Selbstzweifeln geplagte Mann aus der englischen Arbeiterklasse und aus der dreckigen Welt der Sechzigerjahre entwickelte sich alsbald zu einem egomanischen Bühnenmonster, das die Hallen mit seinen Tremoloarm-Exzessen und Feedback-Orgien zum Einsturz brachte, nachdem er zuvor dem Fretboard, über dem er schwebte und auf dem er tänzelte, die berührendsten, zartesten Melodien entlockt hatte. Man höre lediglich „Under The Gun“ von „Perfect Strangers Live“ und anschließend „Wasted Sunsets“, dieses schmerzlich unbegreifliche Mirakel ineinanderfließender Legati.
Der englische Musikkritiker Chris Welch attestierte ihm „taste and finesse“. Blackmore schlägt nur einen Ton an, und man hört, dass er’s ist. „Niemand spielt Gitarre wie er“, sagt Brian May, einer der nobelsten Kerle aus dem von Blackmore gehassten Musikbetrieb, „jazzig, gefühlvoll.“ Als Blackmore in den Sechzigern auftauchte, habe man sich gefragt: „Wo hat er das alles her? Ich hab’ immer noch keine Ahnung. Er ist ein Mysterium. Er hat die E-Gitarre von Grund auf verändert und entfesselt – und zwar vor Hendrix.“
Bezeichnen wir ihn als Kontinent
Nennen wir ihn nicht Gott. Bezeichnen wir ihn als Kontinent. Oder wir bemühen Gene Simmons von Kiss: „Ritchie Blackmore ist die Welt“, ist dieser einsam im All kreiselnde Klumpen, auf dem Hässlichkeit und Bestialität und Passion und Empathie koexistieren. Der Dichter und Zeichner Eugen Egner spricht von „Personalstil“. Das trifft es. Blackmores Kunst ist, ungeachtet seiner grundstürzenden neoklassischen Innovationen, kompliziert, gerade weil sie bisweilen leicht nachzuahmen erscheint. „Keep it simple!“, habe ihm Pete Townshend geraten, erzählt Blackmore, und trotzdem vermag niemand das aufs Äußerste reduzierte Riff von „Smoke On The Water“ (1972), das einfach der Umkehrung des in Quarten gegliederten Kopfthemas von Beethovens Fünfter entsprang, getreu zu reproduzieren.
Ohnehin sucht schon die kristalline Schärfe der Riffs auf Deep Purples „In Rock“ (1970) – „Bloodsucker“, „Into The Fire“, „Flight Of The Rat“ – ihresgleichen. Black Sabbath und Led Zeppelin, die einen wolligen, dumpfen Sound kultivierten, können einpacken. Weil indes das Management eine Hitsingle erheischte, bediente sich Blackmore kurzerhand bei „Summertime“ von Ricky Nelson, woraus im Kollektivsuff schließlich „Black Night“ entstand. „Ich hab’ immer geklaut“, gesteht Ritchie Blackmore. „Lazy“ ist von Cream entlehnt, „Child In Time“ von It’s A Beautiful Day, „Speed King“ von Jimi Hendrix.
Zwischen Mozart und Gershwin
„Burn“, Titelsong des gleichnamigen Albums von 1974 und womöglich der Hardrocksong schlechthin, adaptiert Motive aus Gershwins Oper „Porgy And Bess“, das jenseitige Solo in „Highway Star“ zitiert Mozart. Das alles aber tut Ritchie Blackmores Eigensinn und Originalität keinen Abbruch – brachial im einen, hingehauchte Fade-ins und -outs im anderen Moment. Wenn er wollte, flickte er die betörendsten Licks in Skalen und Strophen hinein. Sein Erzfeind Ian Gillan nennt ihn dieser Tage „ein Genie“. Er konnte Gigs zerstören, weil er keine Lust hatte, oder sie wie Krönungsmessen gestalten. 1993, auf der letzten Deep-Purple-Tour in der unantastbaren Mark-II-Besetzung – mit Gillan, Roger Glover, Jon Lord und Ian Paice –, war das zu gewahren. Mannheim am 15. Oktober? Ein Debakel. „Der Mann kann nicht mehr spielen“, schimpften die Fans hinterher.
Er griff nach den Sternen
Einen Tag später, in Stuttgart, griff der erratische Showman nach den Sternen. Die makellos ausufernde Version des orientalisch legierten Songs „Anya“ ist Gott sei Dank auf der CD „Live In Stuttgart“ konserviert. „Straight between the eyes“ – das sei der Eindruck gewesen, den Hendrix auf ihn gemacht habe, sagte Jeff Beck 1967 zu Ritchie Blackmore. Das, was Beck auf der Stratocaster veranstaltet habe, „sollte nicht erlaubt sein“, meint Blackmore. „Er war zu gut. Er hatte Noten auf seiner Gitarre, die ich auf meiner nicht habe. Seine Seele sprach durch seinen Ton. Er spielte nicht schnell, er war er selber.“ Ebendies gilt für ihn. Neben allem auf Tempo getrimmten, infernalischen Krach und furiosen Lärm sind es sein bis zum Zerreißen sanfter Ton und sein Anschlag, durch die er die Noten emanzipiert und mit Bedeutung einfärbt. Blackmores Begabung ist ein Naturereignis und ein Zeugnis inkalkulabler, inkommensurabler Phantasie.
Don Airey, der aktuelle Keyboarder von Deep Purple, wirkte auf dem Rainbow-Album „Difficult To Cure“ (1981) mit und gestand, das von wispernden Melismen und einer wehmütigen Phrasierung getragene Instrumental „Maybe Next Time“ sei das schönste Stück Gitarrenmusik, das er jemals gehört habe. Vor einiger Zeit habe ich es meinem Freund Ossama vorgespielt. Danach brachte er minutenlang kein Wort heraus. Dann fing er an zu weinen und schluchzte: „This guy is crazy. He is fuckin’ crazy.“ An diesem Montag wird Richard Hugh „Ritchie“ Blackmore achtzig Jahre alt.