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Boris Becker: Die Haft, sagt er, hat ihm gutgetan | ABC-Z

Er war der berühmteste Mann hier im Gefängnis, und er hatte jetzt alle Zeit, über sein Leben nachzudenken. Also schrieb er sich das, was ihn umtrieb, von der Seele. „Die Götter hatten mir fast alles verliehn“, sinnierte er. „Ich besaß Genie, einen erlauchten Namen, eine hohe soziale Stellung, Ruhm, Glanz, intellektuellen Wagemut.“ Nun aber war es vorbei mit der Herrlichkeit, und zu verdanken hatte er das nicht zuletzt sich selbst. Er hatte, so seine Erkenntnis, sich locken lassen „in lange Perioden eines sinnlosen, sinnlichen Wohlbehagens“ und sich „mit den kleineren Naturen und den geringeren Geistern“ umgeben. „Ich verlor die Herrschaft: über mich. Ich war nicht mehr der Steuermann meiner Seele und wusste es nicht“, schrieb er. „Ich endete in greulicher Schande. Jetzt bleibt mir nur eins: völlige Demut.“

Demut war ein neues Gefühl für den berühmten Häftling, den Dramatiker und Dichter Oscar Wilde. Am 25. Mai 1895 hatte man ihn verurteilt wegen seiner „Unzucht“, wie es damals hieß, mit jungen Männern: zwei Jahre Haft mit Zwangsarbeit. Die Zeilen an seinen Geliebten Alfred Douglas, die der gefallene Götterliebling im Gefängnis schrieb, erschienen später unter dem Titel „De Profundis“ und gehören zu einem Genre, zu dem freiwillig kein Schreibender beitragen möchte – der Gefangenenliteratur. Unschuldig und schuldig Inhaftierte haben die Monate und Jahre der verlorenen Freiheit genutzt für literarische Anklagen und Lebensbilanzen, für Kampfschriften und Selbstrechtfertigungen, für Botschaften an die Welt dort draußen. Zu ihnen zählen so unterschiedliche Figuren der Zeitgeschichte wie Nelson Mandela, Rosa Luxemburg, Albert Speer, Hans Fallada, Walter Kempowski oder eben Oscar Wilde.

Zwei Jahre und sechs Monate Haft

Am 29. April 2022 war Becker in London verurteilt worden, wo er seit Jahren lebte und wo er einst zur Legende wurde, am 7. Juli 1985, als Wimbledon-Sieger mit gerade einmal 17 Jahren. Zwei Jahre und sechs Monate Haft wegen Insolvenzdelikten lautete sein Urteil, und direkt vom Gerichtssaal wurde er ins Gefängnis Wandsworth verfrachtet, wo einst auch Oscar Wilde einen Teil seiner Strafe verbüßte. Wandsworth hatte einen neuen berühmtesten Insassen. Auch der war nicht mehr Steuermann seiner Seele, obschon er es in seinem Beitrag zur Gefangenenliteratur prosaischer ausdrückt: Er habe plötzlich „nichts mehr unter Kon­trolle“ gehabt, konstatiert Becker in seinem gemeinsam mit dem britischen Journalisten Tom Fordyce verfassten, bei Ullstein erschienenen Buch „Inside. Ge­win­nen – verlieren – neu beginnen“.

Presseandrang in Berlin: Becker ist nach wie vor ein Volks. . . – ja, was genau, noch immer ein Volksheld?Picture Alliance

Seinen Neubeginn zelebriert Becker wie zu besten Tagen vor großem Publikum. Der Delphi-Filmpalast in Berlin ist gut gefüllt an diesem Donnerstagabend, das Publikum bunt gemischt: ältere Herrschaften und solche, die mit dem Tennisspieler Becker aufgewachsen sind, auch ein paar Kinder. Ganz offensichtlich ist Boris Becker nach wie vor ein Volks. . . – ja, was genau, noch immer ein Volksheld? Er steht in der Lobby des Kinos, ist aber hinter Dutzenden hochgereckten Armen mit Kameras und Handys nicht zu erkennen. Dann betritt er die Bühne. Weißer Anzug, schwarzes Hemd, raspelkurzes Haar. Er ist nicht allein gekommen, in erster Reihe nehmen seine schwangere Frau Lilian, sein ältester Sohn Noah, seine Schwester und deren Kinder Platz. Menschen, sagt Becker, die wüssten, wer er wirklich sei: „Der Rest kennt mich nicht.“ Auch deshalb habe er das Buch geschrieben.

„Furchtbar kalt, bis auf die Knochen“

Viele klassische Topoi der Gefangenenliteratur finden sich auch darin wieder. Das Abstreifen der Individualität, die Degradierung vom Menschen zur Nummer – Beckers Nummer, die A2923 EV, scheint auf dem Buchcover durch –, die demütigenden Leibesvisitationen. Die klaustrophobische Enge der schimmligen Zelle, die verstörenden Geräusche, der Hunger und die Kälte: „Ich schlief in zwei Trainingsjacken und zwei Paar Socken. Ich wickelte mir ein Handtuch um den Kopf. Aber mir war immer noch kalt. Furchtbar kalt, bis auf die Knochen.“ Die Verzweiflung und die Einsamkeit: „Die Zeit wird dein größter Gegner“, sagt Becker. Das dräuende Gefühl der Gefahr, aber auch Momente unerwarteter Gemeinschaft und Freundschaft. All das ist nicht neu, doch man liest es gern, da es packend beschrieben ist. Und weil der, der es erlebt hat, Boris Becker ist.

Boris Becker (vierter von links) kommt mit (von links) seinem Neffen Vincent Becker-Schorp, seiner Nichte Carla Becker-Schorp, seiner Frau Lilian de Carvalho Monteiro, seiner Schwester Sabine Becker-Schorp und seinem Sohn Noah Becker zur Vorstellung seines Buches nach Berlin.
Boris Becker (vierter von links) kommt mit (von links) seinem Neffen Vincent Becker-Schorp, seiner Nichte Carla Becker-Schorp, seiner Frau Lilian de Carvalho Monteiro, seiner Schwester Sabine Becker-Schorp und seinem Sohn Noah Becker zur Vorstellung seines Buches nach Berlin.dpa

Die Frage, ob er zu Recht dort saß, in Wandsworth und bald darauf in Huntercombe, „muss ich mir nicht mehr stellen“, antwortet Becker auf der Bühne des Delphi-Kinos dem Moderator Matthias Killing. Und führt trotzdem noch einmal aus, wie ihm, aus seiner Sicht, falsche Ratschläge und Gutgläubigkeit zum Verhängnis wurden, schuldig gesprochen in vier von ursprünglich 29 Anklagepunkten. Einige Vermögenswerte, von denen der Insolvenzverwalter Tage zu spät erfuhr, ein paar private Rechnungen, beglichen mit Geldern seiner Firma: „Das war mein Verbrechen“, sagt Becker. Auch in seinem Buch benutzt er mehrfach dieses Wort, gesteht sich jedoch auch deshalb mildernde Umstände zu, weil er zu jung gewesen sei. Nicht zum Zeitpunkt seiner Delinquenz wohlgemerkt, sondern bei seinem ersten Wimbledon-Sieg: „Dieser Moment veränderte alles“, schreibt er. „In diesem Moment wurde mein Weg vorgezeichnet.“

Dieser Weg sollte für Boris Becker kein leichter sein, und er wurde, nachdem er seine Tenniskarriere beendet hatte, noch steiniger. „Deutschland geilt sich an meinen Problemen auf. Woche für Woche mache ich Schlagzeilen, nur nicht als Held des Sports, sondern als eine Art Superverlierer“, beschreibt er eine besonders bittere Phase und bekennt sich schuldig, sein „Privatleben zu sehr in die Öffentlichkeit getragen“ zu haben: „Ich wollte den Leuten zeigen, dass es mir gut ging, dass ich verliebt war, dass ich glücklich war.“

„War Barbara in den Wimbledon-Champion verliebt?“

Wenn Becker in seinem Buch sinniert, er habe sich womöglich jahrelang „mit den falschen Leuten“ umgeben, sind die Frauen durchaus mitgemeint: „War Barbara in den Wimbledon-Champion verliebt? Und in alles, was dazugehörte? Dieselbe Frage müsste ich auch für Sharlely stellen.“ Sharlely Becker, in Deutschland bekannter als Lilly, hat die aktuelle Medienoffensive ihres Exmanns um eigene Noten ergänzt: mit einer punktgenau lancierten „Playboy“-Fotostrecke sowie einem Anwaltsschreiben wegen einer Aussage Beckers in einem Interview mit dem „SZ-Magazin“ über den gemeinsamen Sohn. Bei der Buchpremiere in Berlin bleibt beides unerwähnt.

Familiäre Unterstützung:  Boris Becker und seine Frau Lilian de Carvalho Monteiro bei der Buchpremiere in Berlin
Familiäre Unterstützung: Boris Becker und seine Frau Lilian de Carvalho Monteiro bei der Buchpremiere in BerlinPicture Alliance

„Von unsterblichem Ruhm“, lautete einst Oscar Wildes bittere Bilanz, sei er „zu ewiger Ehrlosigkeit gelangt“, und ihm bleibe nur die Demut: „Erst wenn man alles verloren hat, weiß man, dass man sie besitzt.“ Viel verloren hat auch Becker: seine Freiheit, viele Freunde, ein Vermögen. Und auch er zeigt sich heute zur Demut fähig. „Ich gewöhnte mich an mein luxuriöses Leben und entfernte mich von dem, was mich ursprünglich stark gemacht hatte“, schreibt er. In dieser „Komfortzone“, so Becker, „wurde ich träge, ernährte mich schlecht und trank zu viel Alkohol.“ Gerettet habe ihn seine Familie, vor allem Lilian. Aber auch die Haftstrafe. „Ich habe meine Lektion gelernt“, versichert Becker dem Berliner Publikum. „Ich habe mich, glaube ich, gehäutet.“ Die dank der Abschiebung nach Deutschland auf acht Monate verkürzte Haft habe er für eine „Selbsttherapie“ genutzt: „Das Gefängnis tat mir gut, es hat mich gereinigt.“

Mörder, Vergewaltiger, Drogendealer

Das Gefängnis von Wandsworth, wo er seine ersten Wochen verbrachte, sei „lebensgefährlich“ gewesen, erzählt Becker. Etwa 70 bis 75 Wärter stünden dort 2000 Häftlingen gegenüber – Mördern, Vergewaltigern, Drogendealern. Und mittendrin Boris Becker: unser Mann in Wimbledon, nun unser Mann in Wandsworth und Huntercombe. Dass er das Gefängnis halbwegs unbeschadet überstand, verdankt Becker Tugenden, die ihm schon auf dem Tennisplatz nutzten, eisernem Willen und strategischem Geschick. Zu seinem Glück aber traf er auch Leute, Wärter wie Mitinsassen, die ihn unterstützten und schützten.

Und noch etwas dürfte Becker die Lage erleichtert haben, und zwar sein früh ausgeprägtes Weltbürgertum. Der Mann, der in England gelebt hatte, in der Schweiz und in Monaco und der heute in Italien lebt, kam im Knast mit Insassen aller Nationen zurecht. Er half den Rumänen bei ihrer Korrespondenz, trainierte im Gym mit einem muskelbepackten Litauer und betete mit dem Nigerianer Ike. Mit Ike und mit Shuggy aus Sri Lanka schuf sich Becker in Huntercombe „eine kleine Oase inmitten all des Wahnsinns“. An seinem 55. Geburtstag überraschten ihn Mithäftlinge mit gleich drei Kuchen. Dass der weiße Deutsche eine schwarze Partnerin und Kinder gemischter Abstammung hatte, brachte ihm unter den Nichtweißen Respekt ein. Die deutschen Hooligans mit ihren Nazitattoos dürften weniger beliebt gewesen sein.

Einfachere Zeiten: Der erst 17-jährige Becker 1985 nach seinem Sieg im Wimbledon-Finale
Einfachere Zeiten: Der erst 17-jährige Becker 1985 nach seinem Sieg im Wimbledon-Finaledpa

„Alle hier drin waren gleich“, schreibt Becker in seinem Buch. „Wir hatten die gleichen Klamotten an. Wir aßen das­selbe Essen. Wir schliefen alle gleich schlecht, hatten die gleichen unruhigen Nächte. Diese Unterscheidung, die ich zwischen den starken und den schwachen Männern machte, zwischen denen mit Verbrechen, die ich akzeptieren konnte, und denen mit unverzeihlichen moralischen Fehlern – nichts davon spielte eine Rolle. Keiner dieser Männer war besser als der andere. Keiner irgendwie schlauer als der andere. Alles nur erschöpfte Männer, wütende Männer. So sah das aus, wenn man genau hinschaute. Im Gefängnis sind alle gleich. Es ist eine Demokratie der Gauner.“ Unfreiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und weiter: „Kriminelle wurden zu Vertrauten. Böse Männer wurden menschlich. Auf einmal gehörte ich zu ihnen. Ich spürte ihre Stärke. Und sie spürten meine.“

Am Ende sei alles „eine gute Erfahrung“ gewesen

Trotz alledem hat Boris Becker die Gefängnisgemeinschaft liebend gern eingetauscht gegen die Gemeinschaft seiner wiedervereinten Familie. In Berlin ist seine Ehefrau zu ihm auf die Bühne gekommen, und auch sein Sohn Noah, der ihn mit den Worten lobt, er sei „ein krasser Typ“. Lilian erzählt, wie sie in der Zeit der Trennung Gewicht und Haare verlor und an chronischen Schmerzen litt, auch sie aber sagt, am Ende sei alles „eine gute Erfahrung“ gewesen.

Oscar Wilde hatte gehofft, die im Gefängnis neuentdeckte Demut werde „der Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung“ sein. Es sollte anders kommen. Nach zwei Jahren Haft war er ein ruinierter Mann, gesundheitlich, gesellschaftlich und finanziell, er kehrte nie wieder nach England zurück und starb drei Jahre nach seiner Entlassung. So wie ihm geht es auch heute noch vielen Häftlingen, die sich in der Freiheit nicht zurechtfinden, die wieder in der Kriminalität und im Knast landen. Boris Beckers Freund Ike wurde nach der Entlassung aus Huntercombe in seiner alten Heimatstadt Hamburg nicht glücklich und zog zurück nach Nigeria, wo er hoffentlich seinen Frieden finden wird.

Boris Becker scheint dies schon gelungen zu sein. Er hat Lilian geheiratet, lebt mit ihr fernab der deutschen Paparazzi in Mailand und wird bald zum fünften Mal Vater. Arm in Arm mit seinen Lieben posiert er auf der Bühne im Delphi-Palast, zeigt von Neuem, wie verliebt und glücklich er ist, und freut sich über die Standing Ovations. Es ist am Ende dann doch wieder eine Heldengeschichte.

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