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Debattenkultur: Müssen wir das Zuhören wieder lernen? |ABC-Z

Am bequemsten ist das Leben, wenn es langweilig ist. Dann bewegt man sich durch die Tage wie durch eine Filmkulisse. Und auch alle Dialoge wirken wie geskriptet.

„Morgen“, sagt der Bäcker.

„Und, wie?“, frage ich.

„Am liebsten gut“, antwortet er.

Und dann: „Sagsch ’nen Gruß daheim!“

Es kann so einfach sein. Das perfekte Gespräch. Das Zwischenmenschliche wird zu einer Maschine, die auf Knopfdruck und reibungslos funktioniert. Man muss gar nicht so genau hinsehen. Man braucht sich nicht zu bemühen. Und vor allem muss man sich nicht gegenseitig zuhören.

Es gibt ja auch gar nichts, was man da hören könnte. Im Austausch von Allgemeinplätzen zeigt man sich gegenseitig lediglich, dass man registriert, dass der andere existiert. Und das ist manchmal schon viel verlangt. Wir alle sind doch immer so schrecklich busy, busy, busy. Wer der andere ist, was ihn umtreibt oder begeistert? Das gehört nicht mehr ins Gespräch, könnte man meinen. Wenn er reden will, kann er doch einen Podcast aufnehmen.

Schon Tucholsky erklärte das Nicht-Zuhören zur menschlichen Leidenschaft

Es heißt in den vergangenen Jahren ständig und von allen Seiten, wir hätten das Zuhören verlernt. Eine These, die sich einfach in den Raum werfen lässt. Wirklich überprüfen lässt sie sich aber nicht. „Der Mensch hat, neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften“, schrieb Kurt Tucholsky. „Krach zu machen und nicht zuzuhören.“

Tucholsky ist schon seit knapp 90 Jahren tot. Zuzuhören scheint also schon seit Längerem nicht mehr gerade en vogue zu sein. Hinter dieser These steht eine weitere These, die nicht ganz so frei schwebend wirkt: Wenn wir einander besser zuhörten, ginge es uns als Gesellschaft nicht ganz so schlecht.

Am Ohr liegt es nicht, wenn es allenthalben heißt: Wir haben das Zuhören verlernt.iStock/Illustration Nina Simon

Aber wie soll das funktionieren, wenn das Leben, zu dem wir alle verurteilt scheinen, uns eigentlich keinen Raum mehr lässt, überhaupt Gespräche zu führen? Es gibt kein Meeting mehr ohne festgelegte Agenda; sobald man einen abweichenden Gedanken äußert, wird man ermahnt. „Fokus“, brüllt es dann am Tisch oder aus den Zoom-Bildschirmen. Und wenn wir dann mal ins Reden kommen, bei einem Matcha Latte mit Freunden, dann schaffen es unsere von Social-Media-Reels in Form gestanzten Hirne höchstens noch 15 Sekunden zuzuhören, bis die eigenen Gedanken wieder übernehmen.

Wirkliches Interesse des anderen fühlt sich gut an

Dabei würde man das doch gerne. Wieder Nähe spüren, das Kribbeln, wenn man das Gefühl hat: Mein Gegenüber interessiert sich wirklich für meine Sicht auf die Dinge. Und es wäre doch auch interessant zu erfahren, was der andere so denkt, wie er an seine Überzeugungen geraten ist, was ihn umtreibt. Aber anscheinend ist uns da etwas abhandengekommen.

An einem Donnerstagmorgen ploppen neun Gesichter auf meinem Laptop auf. Wir alle haben uns eingewählt, um Zuhören zu lernen. Kerstin Harlinghausen leitet an der Haufe Akademie den Kurs „Wer zuhört, führt!“ Teilweise wird es sich in den kommenden Stunden so anfühlen, als wären wir alle Aliens, die menschliche Gepflogenheiten eingetrichtert bekommen: Man lässt den anderen ausreden; man zeigt ihm, dass man sich für das Gesagte interessiert; man stellt Rückfragen. Basics, könnte man meinen. In Breakout-Rooms üben wir in Kleingruppen. Eine Person erzählt von einem Thema, das sie fasziniert, während eine andere Person die Aufgabe hat, nur zuzuhören, sich ganz auf die Welt des Gegenübers einzulassen.

Meinungen verhindern, dass wir uns einlassen

„Ich denke gerade viel darüber nach, was Spiritualität für mich bedeutet“, sagt Ingo. „Also, ich bin auf der Suche nach etwas, woran ich glauben kann. Ich habe auch schon zwei Erfahrungen mit Ayahuasca gemacht“ – einem Halluzinogen, das aus Kakteen gewonnen wird –, „aber so richtig angekommen fühle ich mich noch nicht.“

Paul, der wie Ingo eigentlich anders heißt, ist zum Zuhören verdammt, runzelt die Stirn. Man sieht ihm an, wie es in ihm arbeitet. „Wie willst du auch ankommen, wenn du dich so aus der Welt schießt?“, fragt er.

„Damit schießt man sich nicht aus der Welt, sondern öffnet Türen nach innen“, versucht Ingo sich zu erklären.

„Du willst mir doch nicht verklickern, dass man durch Rauschmittel klarer sehen kann?“

„Das Gegenteil von Reden ist Warten“

Das Blöde ist, dass Paul eine Meinung hat. Die verhindert, dass er sich auf Ingo einlassen kann. „Das Gegenteil von Reden ist nicht Zuhören“, hat die amerikanische Autorin Fran Lebowitz beobachtet. „Das Gegenteil von Reden ist Warten.“

Noch während Ingo seine Gedanken stotternd in sprachliche Form gießt, hört Paul schon nicht mehr zu, sondern formuliert für sich seine Antwort. Das, was Ingo sagt, geht ihm gegen den Strich. Das kann er nicht einfach stehen lassen. Sollte er aber mal. Denn wer das nicht lernt, wird nie zuhören können.

Das ist etwas, was Harlinghausen, die solche Kurse seit 30 Jahren gibt, schon seit Langem überhaupt beobachtet. „Jeder haut seine Meinung raus“, sagt sie. „Keiner geht wirklich auf den anderen ein.“ Dabei würde genau so Beziehung entstehen: wenn man die Gedanken des anderen aufnehme, sie in die eigene Argumentation einbeziehe. Man könne auch bei der eigenen Meinung bleiben, darum gehe es nicht, sagt sie. „Wenn wir unserem Gegenüber das Gefühl geben, dass wir ihn, seine Meinung und dadurch auch seine Identität wertschätzen, dann kann man sich auch widersprechen, ohne dass daraus ein Graben entsteht.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Doch eine Debattenkultur ist nur zweitrangig an einer Beziehung interessiert. Meist geht es darum, sich gegen den anderen durchzusetzen. Das aber ist nur so lange möglich, wie man sich nicht auf das Gegenüber einlässt. In dem 2023 erschienenen Buch „Triggerpunkte“ analysieren die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser die viel beschworene Spaltung der Gesellschaft anhand von verschiedenen Konfliktarenen. Neben der Erkenntnis, dass wir uns in der Regel einiger sind, als wir vielleicht zugeben wollen, beobachten sie, dass harte Meinungen nur so lange Bestand haben können, bis die Lebensrealität des anderen sie aufweicht. „Respekttoleranz“ nennen sie das.

Und das ist das Paradoxe an Meinungen: In der Regel legen wir sie uns zu, damit sich die Welt etwas geordneter anfühlt, etwas weniger komplex. Idealerweise funktioniert das auch. Dann ist eine Meinung so was wie ein Kletterseil, sie gibt Sicherheit, schadet nicht. Und: Sollte es notwendig sein, kann man den Haken aus der Wand nehmen und das Seil an einem anderen Platz wieder befestigen. Aber manchmal mutieren Meinungen zu Glaubenssätzen, die nicht mehr angefasst, nicht hinterfragt werden dürfen. Dann sind sie nicht nur gefährlich, sondern auch etwas – Verzeihung – dumm.

Wenn wir uns in unsere Meinungen einsperren, werden wir einsam

Diese Entwicklung ist indes allzu verständlich. Heute ist uns viel aufgelastet: Jedem Menschen wird gespiegelt, dass das eigene Glück ein Produkt der eigenen Anstrengungen sei. Wer nicht performt, ist selbst schuld; wer Schwäche zeigt, verliert. Das macht jede Unsicherheit zu einem Makel und führt zu einer Meinungsperformance, die die eigene Überzeugungskraft widerspiegeln soll. Nur: Wenn wir uns in Meinungen einsperren wie in ein Gefängnis, dann machen wir uns einsam.

Ist es die Dauerbelichtung durch das Smartphone, die uns unterbelichtet für Gespräche macht? Liegt es an der Vereinzelung, dass ein Einlassen auf den anderen unmöglich scheint? Oder ist es möglicherweise die Gewohnheit, die es einem schwer macht, auch über Ängste, Zweifel oder Schwächen zu sprechen, statt bei Wohlfühlthemen zu bleiben? Sind es vielleicht die Strukturen des gegenwärtigen Zusammenlebens, die es kaum zulassen, dass Themen, die von der gefühlten oder tatsächlichen Agenda abweichen, ihren Platz im Gespräch finden?

Dass wir verlernt hätten, einander zuzuhören, wird dann eher zu einer Symptombeschreibung. Uns fehlen die sozialen Räume, in denen wir Gespräche führen können, die über das Alltägliche hinausgehen. Uns fehlen Beziehungen, die nicht zweckgebunden sind, in denen das Menschliche nicht sofort von einer Agenda zugedeckt wird. Und uns fehlt offenbar auch der Mut, die Schallgrenze vom Geplapper zum Gespräch zu überschreiten.

Und es stimmt ja, dass die Situationen, die es einem erlauben, über alles zu sprechen, was einem so durch den Kopf geht, immer seltener werden. Das Vereinsleben stirbt aus, die Kirchenbänke werden leerer, an den Bushaltestellen sind alle mit ihren Handys beschäftigt. Das kann man bedauern. Oder man macht etwas dagegen.

Ein Impuls, um wieder mehr Gespräch zwischen Menschen zu ermöglichen: „Zuhörraum“ in München.
Ein Impuls, um wieder mehr Gespräch zwischen Menschen zu ermöglichen: „Zuhörraum“ in München.Picture Alliance

In München auf dem Stephansplatz steht ein unscheinbares Holzhäuschen. Linst man durchs Fenster, sieht man eine schicke Kaffeemaschine und ein paar Sitzplätze. „Zuhörraum“ steht an der Wand. Das Konzept von Michael Spitzenberger, der den Verein „momo hört zu“ gegründet hat, ist einfach: Jeder Mensch kann vorbeischauen, einen Kaffee trinken und erzählen. Egal was ihm auf dem Herzen liegt, ob er Sorgen hat oder sich gemeinsam über etwas freuen möchte. Das Angebot wird angenommen – nicht nur von Besuchern.

Mittlerweile engagieren sich 50 Zuhörer und Zuhörerinnen ehrenamtlich für den Verein. Einsamkeit sei ein zentrales Thema unserer Gesellschaft, sagt Spitzenberger. Dabei spiele das Alter keine Rolle. Was dagegen helfe, sei wertfreies Zuhören. Auf der Website des Vereins steht: „Wir geben keine Ratschläge.“

Die stille Pandemie: Einsamkeit

Initiativen wie den „Zuhörraum“ gibt es in vielen Städten. Und deren Arbeit ist ohne Frage wichtig. Gerade mit einem Blick auf die ausufernde Einsamkeit, die gerne als eine stille Pandemie bezeichnet wird, ist klar, dass dringend gehandelt werden müsste. Doch wer eine Neigung zum Pessimismus hat, könnte denken, dass genau diese Dynamik nur eine weitere Runde auf dem menschlichen Karussell darstellt, das sich so schnell dreht, dass niemand die Fahrt genießt. Zu bemerken, dass wir in einem System leben, das für einige Menschen unmenschlich wirkt, und darauf zu reagieren mit einem Holzhäuschen, in dem einem zugehört wird, wirkt wie ein Pflaster auf einer eiternden Entzündung.

So falsch es sich anfühlt, strukturelle Probleme auf eine persönliche Ebene zu ziehen, so vielsagend ist auch eine Szene aus einem Fernsehbeitrag aus dem Jahr 2016. In der Hauptrolle: Roger Willemsen. Katrin Bauerfeind spaziert mit Willemsen durch dessen Viertel in Hamburg, und dabei stellt sich heraus: Er kennt fast alle Ladenbesitzer, weiß um deren Sorgen, weiß sogar, dass die Tochter der Frau, von der er seine Briefmarken kauft, gerade auf einen Ausbildungsplatz hofft. Kurz: Dieser Film ist das Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn man sich für die Menschen um einen herum interessiert. Das müssen nicht immer tiefgehende Gespräche sein, Interesse ist auch nicht zwingend mit Verantwortung für den anderen verbunden. Aber Interesse ist immer mit Freude verbunden, mit Beziehung.

Jetzt könnte man natürlich einwenden, dass nicht jeder Mensch mit einer so ausgeprägten Begabung für das Menschliche gesegnet ist, wie es Roger Willemsen war. Das stimmt. Aber vielleicht kann man das ja üben. Einfach mal den Kellner fragen, wie es ihm geht – einen Versuch wäre es wert.

Heute Morgen war ich wieder beim Bäcker. Ich habe herausgefunden, dass er Markus heißt und dass sein Lieblingsgebäckstück die Seele ist, ein Kleinbrot aus der schwäbischen Küche. Ich weiß, ich weiß, ich bin noch kein Willemsen. Aber es ist ein Anfang. Unsereins wird nicht als Roger geboren, wir können’s aber ­lernen.

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