Debatte um Leitkultur: Lasst die Mütter aus dem Spiel! | ABC-Z

Ich gebe es zu: Natürlich wollte ich nach Wien. Als ich vor zehn Jahren nach Österreich zog, hatte ich noch nicht viel mehr vom Land gesehen, und eine Hauptstadt erscheint einem Migranten immer als sichere Wahl. Aus Berlin kommend, liegt Wien ohnehin zwar acht Stunden Autofahrt entfernt, aber doch sehr nah. Beides internationale Metropolen, relativ sicher, mehr oder weniger schön, mit verschiedensten Communities, die im Großen und Ganzen friedlich und vernünftig miteinander leben. Alles wie gewohnt, nur woanders. Wien sollte es also sein. Wurde es aber nicht. Das Leben schickte mich stattdessen zum Großglockner der Integration. Nach Niederösterreich.
Was mir bevorsteht, dämmerte mir, als mich zum ersten Mal eine Ordinationsschwester deutlich lauter und langsamer ansprach, weil ich gerade die Treppe nach oben gelaufen war, statt nach unten, wie sie mir offenbar aufgetragen hatte. “Owe”, “auffi”, “eine”, “fire” … wohin ich mich bewege, wenn ich diese Worte höre, das ist bis heute Glückssache.
Mir wurde es noch klarer, als ich das erste Mal von Erwin Pröll hörte und vom Gottkönigtum, das sich die niederösterreichische ÖVP in ihrem Kernland errichtet hat.
Bis zur Diagnose “Kulturschock” brauchte es nicht mehr viel – nur den Jesus am Kreuz, im Kindergarten meines Kindes.
Ich würde mich zurechtfinden, dachte ich
Dazu muss ich sagen: Ich bin noch in der DDR geboren, der einzige Katholik, den ich als Kind, nun ja, kannte, war Johannes Paul II., viel mehr wurden es im Laufe der Jahre nicht. Danach lebte ich die meiste Zeit im gottlosen Berlin. Kreuze im Kindergarten oder in der Schule? Das kam nur in Bayern und anderen Parallelwelten vor.
Niederösterreich war also eine Herausforderung. Aber, und das ist wichtig, ich konnte mir die meisten Dinge herleiten, auch den Jesus im Kindergarten. Ein katholisches Land, das Konkordat noch in Kraft, also hängt da ein Kreuz. Ich würde mich schon zurechtfinden, dachte ich.
Zehn Jahre später rätsle ich zwar immer noch hin und wieder, wessen Himmelfahrt wir jetzt schon wieder mit einem Feiertag begehen, aber im Großen und Ganzen habe ich mich an den Katholizismus gewöhnt. Feste Riten, klare Regeln – das erleichtert die Orientierung. Man weiß, woran man ist.
Das ist in Niederösterreich leider nicht immer so. Im Gegenteil. Manchmal habe ich das Gefühl, je länger ich hier wohne, desto schleierhafter wird mir alles. Und was soll ich sagen: Es liegt nicht nur an mir. Sondern an der “Leitkultur”.
Österreich übernimmt die deutschen Fehler
Den Begriff kenne ich aus Deutschland nur zu gut, der arabischstämmige Politologe Bassam Tibi hat ihn um die Jahrtausendwende geprägt. Er wollte die Leitkultur als “Hausordnung für Menschen aus verschiedenen Kulturen” verstehen, ein sehr praktischer Ansatz, den ich sehr begrüße. Leider endete er, wie so viele andere Debatten, die in die politische Sphäre schwappen: als Kampfbegriff. Es war der heutige Kanzler Friedrich Merz, der die “Leitkultur” damals aufgriff und in ein Stoppschild verwandelte: Wer nicht so ist wie wir, soll bitte draußen bleiben.
Die österreichische Diskussion um die “Leitkultur” hat leider einen Geburtsfehler ihrer deutschen Nachbarn übernommen: Die “Hausordnung” wurde nie ausformuliert. Wenn ein Politiker mal wieder “Kante zeigen” wollte gegen Ausländer, fuchtelte er mit ihr herum, aber was genau drinstand? Mal dieses, mal jenes. Mal Sinnvolles – Gleichstellung von Mann und Frau, Rechtsstaat, gewaltfreie Erziehung. Mal Nonsens – Verbrenner, Schnitzel, Blasmusik.
Besonders kreativ in Sachen “Leitkultur” scheint mir mein neues Heimatland Niederösterreich zu sein. Die Landesregierung hat unter anderem Deutsch als Pausensprache auf Schulhöfen verfügt und mit der “Schnitzel-Prämie” Wirtshäuser für eine traditionsbewusste Karte belohnt. Der neueste Zugang auf der Hausordnung zeigt, wie beliebig die Diskussion geführt wird: der Muttertag.
Keine Muttertagskarte? Skandal!
Ich persönlich halte diesen Tag für im besten Fall für überflüssige Symbolpolitik, im schlimmsten für antifeministisch. Trotzdem gönne ich es jeder Mutter im Land, wenn sie einen Strauß Blumen bekommt, oder wenigstens mal wieder einen Anruf (falls Sie jetzt laut aufstöhnen – es ist zu spät, es war am 11. Mai, Ihre Mutter ist sehr enttäuscht von Ihnen!). Oder, wenn Kindergartenkinder im Haus sind, eine selbst gebastelte Karte.
In diesem Jahr aber, und dieser Fall hat Schlagzeilen gemacht, hat ein Kindergarten in Baden bei Wien das Basteln unterlassen. Angeblich, so kolportierte es die FPÖ, weil ein Pädagoge dort “Rücksicht auf fremde Kulturen” habe nehmen wollen, in denen der Muttertag nicht gefeiert wird. Und weil die Freiheitlichen noch jeden Sack Reis für ihren Kulturkampf nutzen, wetterten sie hinterher: “Unsere Traditionen, unsere Werte, unsere Bräuche sind hochzuhalten, gerade in Bildungseinrichtungen.”
Der Muttertag gehört also zu “unseren Werten”? Er hat sich, verrät Wikipedia, seit den 1920er Jahren in Österreich weitverbreitet, wird also seit 100 Jahren begangen – aber das könnte man so ähnlich über viele Tage sagen. Auch der 1. Mai wird seit über 100 Jahren in Niederösterreich gefeiert, nur wird die FPÖ wohl kaum darauf bestehen, dass man “Die Arbeit hoch!” singend auf die Marktplätze wandern muss, um das österreichische Brauchtum hochzuhalten. Im Übrigen feiert man auch im arabischen Raum seit den 1950er Jahren einen Muttertag, nur geht das auf eine andere Tradition zurück, oder um es mit der FPÖ zu sagen: auf die falsche.
Wer definiert endlich die Hausordnung?
Und wenn Sie jetzt sagen: “Bitte nicht die FPÖ mit Österreich verwechseln!” Ja, da haben Sie recht. Aber warten Sie, was die ÖVP zum Thema zu sagen hatte: Sie keilte heftig gegen den eigenen Koalitionspartner und sprach von “überschrittenen Linien” – aber nicht etwa, weil die Freiheitlichen es mit dem Muttertag ein wenig übertreiben. Sondern, weil die FPÖ über “Multikulti-Pädagogen” schimpfte. Das war der ÖVP dann doch zu viel. Der Muttertag dagegen, versicherte die Volkspartei eilfertig, werde natürlich in jedem Kindergarten gefeiert: “Die gelebten Traditionen in Niederösterreich sind fester Bestandteil unserer Politik.”
Das Problem mit den “gelebten Traditionen” ist nur: In zehn Jahren Österreich habe ich noch niemanden getroffen, der sie definieren kann. Keine Integrationsministerin, keinen Kanzler, keinen FPÖ-Politiker. Dabei gab es Runde Tische dazu, Expertenrunden, Talkshows noch und nöcher.
Vielleicht liegt es daran, dass die wenigsten Politiker in Niederösterreich und im Rest des Landes eine echte Hausordnung ausarbeiten wollen, die ja ein wichtiger Baustein sein könnte für ein Einwanderungsland. Weil sie dann eine politische Waffe verlieren würden. Dabei würde mich wirklich interessieren, was sie denn nun sein soll, die österreichische Leitkultur. Aber dafür müsste man die Debatte endlich einmal zu einem Ende führen, zu einer klaren Leitlinie. Und um Himmels willen die Mütter aus dem Spiel lassen.