Debatte über Paragraf 218: „Historische Chance“ oder weniger Entscheidungsfreiheit? | ABC-Z

Kurz vor der letzten regulären Bundestagssitzung der Wahlperiode geben Experten im Rechtsausschuss ihre Einschätzung zu einem Projekt von SPD, Grünen und Linkspartei: die Abschaffung von Paragraf 218, der Abtreibungen unter Strafe stellt. Ihre Einschätzungen klaffen weit auseinander.
Es ist ein Versuch gewesen, noch in dieser Legislaturperiode ein gesellschaftspolitisches Großprojekt durchzukriegen: die weitgehende Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt.
Abgeordnete von SPD, Grünen und der Linkspartei hatten kurz nach dem Ende der Ampel-Regierung im November einen Gesetzesvorstoß zur Liberalisierung des bestehenden Rechts in den Bundestag eingebracht. Am frühen Montagabend werden nun im Rechtsausschuss Experten zur Thematik angehört.
Dass der Bundestag am Dienstag darüber abstimmen wird, ist höchst unwahrscheinlich. Es ist das letzte Mal, dass das Plenum vor der Neuwahl zusammenkommt – es wäre die vorerst letzte Möglichkeit, um das Abtreibungsrecht zu ändern. Doch die Chancen sind gering. Zumal sich CDU/CSU, FDP und AfD gegen eine Liberalisierung stellen.
Nach aktueller Gesetzgebung sind Schwangerschaftsabbrüche rechtswidrig. Sie bleiben allerdings straffrei, wenn sich die Frau drei Tage vor dem medizinischen Eingriff beraten lässt. Straffrei ist ein Abbruch auch dann, wenn medizinische Gründe vorliegen oder wenn eine Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist.
Nach Wunsch von SPD, Grünen und Linkspartei sollen Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche rechtmäßig werden. Die Beratungspflicht bliebe bestehen – allerdings ohne die Karenzzeit von drei Tagen zwischen Beratung und Schwangerschaftsabbruch. Wird der Abbruch ohne Beratungsbescheinigung vorgenommen, soll sich der Arzt künftig strafbar machen. Die Frau bliebe dagegen straffrei.
Die Stellungnahmen der Experten, die am Montag im Rechtsausschuss präsentiert werden sollen, wurden vorab vom Bundestag veröffentlicht – mit unterschiedlichen Ergebnissen.
Wie sich die eingeladenen Experten positionieren
Alicia Baier, Vorstand von Doctors for Choice Germany, begrüßt die im Gesetzesentwurf geplante Straffreiheit sowie die Kostenübernahme des Schwangerschaftsabbruchs durch die gesetzlichen Krankenkassen. Allerdings empfehle sie, auch auf strafrechtliche Sanktionen für Ärzte zu verzichten.
Auch Strafrechtlerin Liane Wörner von der Universität Konstanz spricht sich für den Entwurf aus. „Der Gesetzentwurf hebt die tragenden Mängel auf und legt ein widerspruchsfreies, sich in die Rechtsordnung einfügendes Gesamtkonzept vor, das Lebensschutz ebenso ermöglicht und Maßnahmen hierzu vorsieht, wie den Schutz der reproduktiven Rechte von Schwangeren, Frauen und gebärfähigen Personen.“
Der Deutsche Frauenrat bezeichnet den Entwurf gar als „historische Chance“, die Gesundheit und Rechte von Frauen zu schützen und zu stärken. Die juristische Fakultät der Uni Potsdam kommt zum Schluss, dass das Vorhaben „verfassungsrechtlich zulässig“ sei.
Der Verein Pro Femina kritisiert den Entwurf dagegen. So heißt es in der Stellungnahme: „Der vorliegende Gesetzentwurf stellt keine Verbesserung der Situation von Frauen im Schwangerschaftskonflikt in Aussicht. Er verbessert nicht die echte Entscheidungsfreiheit von Schwangeren in Not. Im Gegenteil: Der Entwurf in seiner jetzigen Form verringert wirkliche Entscheidungsfreiheit, weil alle bisherigen lebensbejahenden und lösungsorientierten Elemente und Vorgaben der bestehenden Regelung gestrichen werden.“
Michael Kubiciel, Direktor des Instituts für die gesamte Strafrechtswissenschaft der Uni Augsburg, nennt den Vorstoß „rechtspolitisch verfehlt“. So würde er keinen Beitrag zur Lösung tatsächlicher Probleme liefern. „Der Entwurf verändert die Rechtslage für Ärzte nicht, da diese schon jetzt unter dem Schutz der Rechtsordnung beratene und indizierte Abbrüche vornehmen können.“
Tiefe Gräben zwischen den Bundestagsfraktionen
Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz (CDU), hatte sich im November empört über den Vorstoß von Rot-Grün sowie Linkspartei gezeigt. Damit solle versucht werden, „den Paragrafen 218 jetzt noch im Schnellverfahren zum Ende der Wahlperiode abzuschaffen“. Dazu, dass auch Olaf Scholz (SPD) den Gesetzentwurf unterstützt, habe er kein Verständnis: „Das ist skandalös, was der Bundeskanzler da macht“, sagte er damals. Es handele sich um ein Thema, „das wie kein zweites das Land polarisiert, das wie kein zweites geeignet ist, einen völlig unnötigen weiteren gesellschaftspolitischen Großkonflikt in Deutschland auszulösen“.
Der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Günter Krings (CDU), bekräftigt im Gespräch mit WELT die Merz-Linie: „Unsere Haltung ist klar: Unsere Verfassung schützt auch das ungeborene Leben, weshalb unser Strafgesetzbuch ein Lebensschutzkonzept verfolgt. Dies ist aus ethischen Gründen geboten und unverzichtbar.“ Daher unterstützten weder er noch seine Fraktionskollegen den Entwurf.
Die FDP um ihre rechtspolitische Sprecherin Katrin Helling-Plahr lehnt eine Neuregelung nicht grundsätzlich ab. Sie weist jedoch darauf hin, dass eine Debatte im nächsten Bundestag „gründlich, sorgsam und der Thematik angemessen“ behandelt werden müsste. „In der Diskussion sollten wir den Blick nicht nur auf eine Reform des Paragrafen 218 verengen, sondern auch gesundheitspolitische Maßnahmen, wie die bessere Verankerung der Thematik in der medizinischen Ausbildung und die tatsächliche Nutzung des Potenzials medikamentöser Abbrüche, anstreben“, sagte die rechtspolitische Sprecherin ihrer Fraktion.
Die AfD wiederum stellt sich grundsätzlich gegen eine Neuregelung. Der Abgeordnete Tobias Peterka argumentiert: „Die beabsichtigte Neuregelung kritisieren wir scharf, weil die Regelung der wichtigsten staatlichen Schutzaufgabe, das menschliche Leben – auch das ungeborene Leben – vor seiner Tötung zu schützen, entgegensteht.“
SPD, Grüne und Linkspartei, die den Entwurf eingebracht hatten, nehmen die Gegenposition ein. Sonja Eichwede, rechtspolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im Bundestag, bekräftigte auf WELT-Anfrage, dass die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs „vollständig von der Position der SPD-Bundestagsfraktion“ gedeckt sei. „Die Mehrheit der Deutschen möchte die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Wir wollen das Selbstbestimmungsrecht der Frau und den Schutz des ungeborenen Lebens besser in Einklang bringen.“ Es bestehe dringender Handlungsbedarf.
Die Grünen kritisieren die Haltung von Union und FDP. Es sei bedauerlich und entspräche „nicht dem üblichen Umgang mit Gruppenanträgen“, sagte Ulle Schauws, Sprecherin für Frauenpolitik. „Das Thema wurde jetzt lange und sehr breit diskutiert, ein ausführlicher Kommissionsbericht liegt vor, zahlreiche Verbände haben Stellungnahmen abgegeben und eine breite Mehrheit der Bevölkerung ist für eine Legalisierung.“
Tatsächlich hatte sich eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission im vergangenen Jahr für eine Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch ausgesprochen. Eine Umfrage im Auftrag des Bundesfrauenministeriums ergab außerdem, dass es mehr als 80 Prozent der deutschen Bevölkerung für falsch hielten, Schwangerschaftsabbrüche generell als rechtswidrig einzustufen.
Entscheidung auch über Sondersitzung möglich
„Die Mehrheit der Gesellschaft ist hier schon längst viel weiter, deswegen ist es überfällig, dass Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen endlich straffrei werden“, teilt die Vorsitzende der Linke-Gruppe, Heidi Reichinnek, mit. Allerdings hätte sie sich eine weitergehende Lösung gewünscht, etwa ein Recht auf Beratung anstelle einer Beratungspflicht. Dass Union und FDP bis jetzt die Abstimmung dazu blockierten, finde sie „absolut feige“. Reichinnek betont, dass auch nach der letzten offiziellen Bundestagssitzung noch eine Entscheidung gefällt werden könnte. Tatsächlich wäre das über eine Sondersitzung möglich.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht äußerte sich auf WELT-Anfrage nicht.
Offizielle Beratungsstellen für Schwangerschaftsabbrüche sind wie die Experten und die Parteien uneins, ob eine Neuregelung sinnvoll ist.
Die Beratungsstelle Donum Vitae etwa kritisiert den Gesetzesvorstoß scharf. Der Entwurf schwäche den Schutz des ungeborenen Lebens im Vergleich zur aktuellen rechtlichen Regelung deutlich ab und nehme damit einen wesentlichen Vorzeichenwechsel vor. „Gestützt auf die Empfehlungen des Kommissionsberichts werden die Würde und der Schutzstatus des ungeborenen Lebens im ersten Drittel der Schwangerschaft explizit nicht mehr als gleichwertiges Rechtsgut im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren anerkannt“, heißt es in einer Stellungnahme des Vereins.
Pro Familia, ein deutschlandweiter Verbund von Beratungsstellen, befürwortet die Neuregelung dagegen. Diese sei dringend erforderlich. „Der Gesetzentwurf spiegelt die klare gesellschaftliche Erwartung umgehend gesetzgeberischen Handelns wider.“
Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.