Das Wesen des Taktgefühls und warum es uns fehlt – Stil | ABC-Z
Martin Scherer: Der Begriff ist anachronistisch, aber er ist nicht antiquiert. Ich widme mich gerne Phänomenen und Haltungen, die mir sympathisch vorkommen, weil ich verstehen möchte, warum ich etwas liebe. Das Buch ist aber auch eine Verlustanzeige und eine sanfte Erinnerung: Wir Menschen können auch so sein. Das erschien mir angesichts der aktuellen Lage angebracht.
Worin Taktgefühl besteht, lässt sich schwer fassen. Waren Sie heute schon taktvoll?
Sehen Sie, bei unserer Begrüßung eben haben Sie mich gefragt, wann genau das Buch erschienen ist, aber nicht, wie es sich verkauft. Und ich habe nicht gefragt, wie die wirtschaftliche Lage bei den Printmedien so ist.
Das war wirklich taktvoll, danke.
Ich begreife taktvolles Verhalten als ein zugewandtes Unterlassen, ein Umschiffen der Härten im menschlichen Miteinander. Ich kann dem anderen die Initiative lassen, sich zu bestimmten Themen zu äußern, gehe aber immer erst mal davon aus, dass er seine Grenze wahren, seine Schwächen nicht entblößen möchte. Diesen Raum gesteht ein taktvoller Mensch einem anderen innig zu.
Takt unterscheidet sich dabei aber von Höflichkeit, oder?
Takt ist ein opaker Begriff, aber einer, der bei den meisten Menschen ein Wohlgefühl erzeugt. Es ist auf jeden Fall nichts rein Rhetorisches. Er hat natürlich Gemeinsamkeiten mit der Höflichkeit, beides sind Kulturtechniken des Respekts. Mir scheint aber, dass Takt auch eine Affinität zum Flirt hat, platonisch gewissermaßen. Bei einer taktvollen Geste kommt man dem anderen nahe, hat aber gleichzeitig eine Distanz. Das Gegenteil von Takt wäre Übergriffigkeit.
Übergriffigkeiten werden heute allerorten angeprangert, haben wir also kollektiv das Taktgefühl verloren?
Ich möchte nicht die gute alte Zeit beschwören, im Sinne von „da waren alle taktvoll und wussten noch, wie es geht“, ich habe auch nie eine Romantik für den Adel gehabt. Aber es scheint mir heute schon schwierig, andere aussprechen zu lassen oder auch nur etwas mir Ungewöhnliches zuzulassen. Viel häufiger geht es heute schnell um einen Schlagabtausch, darum, die eigene Meinung kundzutun oder alles haarklein zu bewerten. Für mich ist Takt aber immer noch auf dem Planeten Charme angesiedelt. Deswegen kann man auch keine Anleitung zum Taktvollsein geben. Höfliche Umgangsformen lassen sich lernen, Takt hingegen ist etwas Momenthaftes, Intuitives.
Anderseits ist das Rücksichtnehmen auf Minderheiten ein großer Trend, Stichwort Wokeness. Ist das nicht eine moderne Interpretation von Taktgefühl?
Sicher, wenn es darum geht, Verletzlichkeiten anderer Menschen zu respektieren, ist der Takt hypermodern und hat in der Woke-Bewegung durchaus Bannerträger. Auf der anderen Seite verstört mich bei den Woke-Aktivisten das schnelle Beleidigtsein und die Überempfindlichkeit. Wenn ich mich ständig übersehen oder überhört fühle, ist das schon wieder sehr viel Selbstbespiegelung und irgendwann nicht mehr nur Larmoyanz, sondern fast eine militante Empfindlichkeit. Die Impulse sind völlig plausibel und zeitgemäß, aber inzwischen kommt es mir manchmal vor, als wäre Wokeness mehr Teil des Problems als der Lösung.
Niklas Luhmann hat notiert, dass „Takt nur mittels Erwartung von Erwartungen möglich ist“. Wie entschlüsseln Sie das?
Ich verstehe das so, dass Takt eben nicht darin besteht, meinem Gegenüber eine wohlmeinende Frage zu stellen und dann auf eine Antwort zu warten. Der Taktvolle trumpft mit seiner Intuition nicht auf, sondern lässt den anderen sozusagen kommen. Man nimmt das Gegenüber in seiner Andersartigkeit wahr, das meinte ich auch anfangs mit dem Flirten. Es kann auch taktvoll sein, eine Frage im richtigen Moment zu stellen, wenn man spürt, dass jemand sich eigentlich äußern möchte, aber erst eine Einladung zur Öffnung braucht. Es geht beim Takt immer um ein seismisches Ausloten der Situation.
Können Sie trotzdem ein allgemeingültiges Beispiel für eine taktvolle Geste geben?
Eine elementar einfache Form von Takt und, wenn Sie so wollen, die ultimative Taktgeste schlechthin ist es, einem Verstorbenen die Augen zu schließen. Ihm aus dieser Ohnmacht zu helfen, ihn zu entlasten. Das ist eine menschliche Intuition.
Können Kinder taktvoll sein?
Empathisch ja, aber nicht im eigentlichen Sinne taktvoll. Takt hat auch mit Übung und Menschenkenntnis zu tun, es kann nicht studiert werden und basiert auch nicht auf einer Entscheidung. Es ist eine Lebensklugheit, die sich ausformt, ähnlich wie der Hausverstand. Um das deutlich zu sagen, Takt ist auch sicher nicht das Segel, mit dem wir durch jede Situation kommen. Im Geschäftsleben zum Beispiel ist er mir eher selten begegnet, im Netz auch.
Da geht es meistens darum, einen Punkt zu machen, seine Agenda zu untermauern.
Ja, alles muss heute in ein Freund-Feind-Schema passen, kalibriert am eigenen Ich. Takt gilt aber nicht nur gegenüber Freunden oder Gleichgesinnten, Takt hat eben auch viel mit Toleranz zu tun. Wenn man so will, ist Takt Ausdruck meines gelungenen Ressentiment-Managements. Ungeachtet, ob ich die Person mag und wertschätze, behandle ich sie zartsinnig.
Wie sieht es mit Takt in einer Beziehung aus?
Ich glaube, auch gerade in einer Beziehung mit Intimitätsniveau kommt man um den Takt nicht herum. Denn beim Zusammenleben erfahren wir ja die Andersartigkeit und Rätselhaftigkeit der anderen besonders deutlich. Den anderen unverletzt zu lassen, an manchem vielleicht nicht zu rühren, darum geht es. Ich mag in diesem Zusammenhang auch das, was Rilke meint, wenn er sagt, man solle an der Einsamkeit des anderen Wache halten.
Je länger man zusammen ist, desto mehr Taktgefühl wäre eigentlich vonnöten, oder?
Ja, ich glaube auch, das ist eigentlich ein Crescendo. Die gewachsene Vertrautheit stellt neue Herausforderung dar, oder besser gesagt: die Detailkenntnis. Bei langedienten Paaren, die sich noch gut sind, beobachtet man auch oft, dass es immer noch eine spielerische Ebene gibt, auf der einer den anderen auch nach Jahren immer noch interessiert umkreist.
Gleichzeitig ist es heute üblich, in Liebesdingen alle Bedürfnisse sehr deutlich auszusprechen und die eigenen Wünsche zu artikulieren.
Diese Entschlüsselungsfantasien, also jeden Moment ganz klar zu sagen, was ich erwarte und empfinde, diese Checklisten für einen idealen Partner sind meines Erachtens völlig surreal und widerstreben doch eigentlich dem Entwicklungsgedanken in einer Beziehung.
Takt ist etwas, das sich zwischen zwei Menschen direkt abspielt, oder? Es funktioniert nicht von erhöhter Warte aus, etwa bei der Rede eines Politikers?
Man kann gegenüber einem Publikum schwer taktvoll sein, es findet zwischen Menschen statt, es kann aber durchaus auch in einer E-Mail-Konversation gelingen. Von Auto zu Auto wird es eher schwierig, würde ich sagen. Dazu fällt mir ein, dass ich schon zweimal erlebt habe, wie vor mir ein schwerer Unfall passierte, und das, was die Polizei als Erstes machte, war, einen Sichtschutz aufzubauen, um Blicke zu vermeiden. Eine taktvolle Maßnahme. Taktvoll ist es dann natürlich auch, nicht neugierig zu glotzen, verwundbare Situationen nicht auszunutzen.
„Takt“ von Martin Scherer ist im zu Klampen!-Verlag erschienen.