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Das Liebesleben des Premierministers | Abendzeitung München | ABC-Z

Man mag es gar nicht glauben: 560 Briefe schrieb der britische Premierminister H. H. Asquith in einem Zeitraum von knapp zwei Jahren seiner 35 Jahre jüngeren Geliebten Venetia Stanley. Manchmal verfasste er mehrere täglich, denn in London wurde die Post im Jahr 1914 zwölfmal am Tag ausgetragen.

Seine Besessenheit, die Asquith’ Gattin Margot fast routiniert zur Kenntnis nahm, schließlich hatte Venetia schon ein halbes Dutzend junge Vorgängerinnen, wäre in ruhigen Zeiten schon verblüffend. Aber Robert Harris’ neuer Roman “Abgrund” beginnt mit den letzten Friedenswochen in Europa kurz vor dem Ersten Weltkrieg. “Alle im Text zitierten Briefe des Premierministers sind – was erstaunen mag – authentisch”, schreibt der britische Bestsellerautor in einer Vorbemerkung. Man würde die Liebesschwärmereien des über 60-jährigen liberalen Regierungschefs für die junge adlige Cousine von Churchills Ehefrau Clemmie sonst niemals der Realität zuordnen.

England bleibt im Krieg Zuschauer, glaubt Asquith

Historiker beschwichtigen, die Liebe des Premiers zu den jungen Damen sei wahrscheinlich rein platonisch gewesen, Harris ist sich da im speziellen Fall von Venetia nicht so sicher. Sie ist aber nicht nur Ziel seiner übersprudelnden Emotionen, sondern auch aller politischen Überlegungen.

Herbert Henry Asquith als Premierminister 1915.
© IMAGO/Bridgeman Images
Herbert Henry Asquith als Premierminister 1915.

von IMAGO/Bridgeman Images

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Der dem Alkohol sehr zugeneigte und ohnehin entscheidungsschwache Politiker (Motto: “Wait and see”) ist geradezu handlungsunfähig, wenn er ein Problem nicht zuvor gründlich mit Venetia besprochen hat. Die zumindest von ihm unterstellte Seelenverwandtschaft erstreckt sich offensichtlich auch auf die irische Frage oder die Julikrise 1914. Obwohl – das ist wirklich erschütternd – Asquith auch Wochen nach dem Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajevo keinerlei Gefahr sieht, England könne in einen Krieg hineingezogen werden. “Glücklicherweise scheint es keinen Grund zu geben, warum wir etwas anderes sein sollten als Zuschauer”, schreibt er am 22. Juli und versorgt Venetia mit den vertraulichsten Informationen aus dem Kabinett.

Die Liebe interessiert ihn mehr als der Krieg 

Die einzige Sorge, die ihn wirklich umtreibt, ist die nach dem nächsten Treffen mit Venetia. Was diese schwerreiche Tochter von Lord and Lady Sheffield an der Beziehung fasziniert, bleibt vage, aber sie genießt es, besser informiert zu sein als der Rest des Landes zu einer Zeit, als Frauen noch nicht einmal Wahlrecht haben. Da ihre Briefe wahrscheinlich von Asquith verbrannt wurden, übernimmt es Harris, diese zu erfinden. Zudem entwickelt der britische Spannungsexperte mit dem Polizisten Paul Deemer eine typische Harris-Figur, die später dem Premier hinterherschnüffelt, weil dieser bei Spazierfahrten mit Venetia geheime Dokumente aus dem Auto schmeißt.

Venetia Stanley erhielt 560 Briefe von Herbert Henry Asquith
© IMAGO/Gemini Collection
Venetia Stanley erhielt 560 Briefe von Herbert Henry Asquith

von IMAGO/Gemini Collection

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Aber “Abgrund” lebt nicht von der Krimispannung und geheimen Ermittlungen. Deemer spiegelt vielmehr den sozialen Gegenentwurf zum politischen Milieu der oberen Schicht, die die Geschicke des Landes steuert, aber weite Teile des Jahres auf ausgedehnten Landsitzen verbringt. Asquith, ein Anwalt aus der Mittelklasse, ist dort nie ganz angelangt, er sei wohl “kein Gentleman” nach dem königlichen Urteil von Georg V.

Winston Churchills militärisches Desaster 

Atemlos folgt der Leser dem Abrutschen in die Katastrophe. Im Kabinett werden die Stimmen, die keine Einmischung wollen, immer leiser, es folgt der Aufstieg des kriegslüsternsten Kabinettsmitglieds, Winston Churchill. Der Erste Lord der Admiralität setzt sich mit seinem verwegenen Plan durch, die Dardanellen zu besetzen. Dieses völlig fruchtlose militärische Abenteuer sollte weit über einhunderttausend Soldaten auf beiden Seiten das Leben kosten.

Asquith aber erschüttert 1915 ein ganz anderer Vorfall bis ins Mark, Venetia beendet die Affäre und kündigt ihm an, seinen politischen Vertrauten Edwin Montagu zu heiraten. “Meine über alles Geliebte, Du weißt sehr genau, das bricht mir das Herz. Ich kann nur Gott bitten, Dich glücklich zu machen – und mir beizustehen”, schreibt Asquith. Er ist ein gebrochener Mann und ein paar Monate später auch politisch Geschichte.

Harris beweist mit “Abgrund” einmal mehr sein besonderes Themengespür, denn diesen komplexen Roman über Liebe, Macht, Krieg und Verantwortungslosigkeit wird man in diesen Zeiten keineswegs als einen rein historischen lesen.

Robert Harris stellt “Abgrund” (Heyne, 510 Seiten, 25 Euro) im Rahmen der Bücherschau am Montag, 18. November 2024 um 19 Uhr im Terrassensaal im Haus der Kunst vor

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