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Das Archiv von John le Carré in der Bodleian Library in Oxford | ABC-Z

Den notorisch empfindlichen John le Carré irritierte es, wenn man ihn als Genre-Schriftsteller einschätzte. Er wollte sich als Künstler verstanden sehen, der sich der doppelbödigen Welt der Spionage lediglich als Plattform bediente: für die Erkundung postkolonialer Befindlichkeiten und moralischer Dilemmata auf nationaler und persönlicher Ebene. Im Mittelpunkt seiner Bücher stand die Frage, wie weit man in der Verteidigung seiner Werte gehen könne, ohne sie zu preiszugeben.

Im Roman „Dame, König, As, Spion“ legte der Bestsellerautor dem als Maulwurf entlarvten Bill Haydon in den Mund, dass „die Geheimdienste der einzig reale Maßstab für die politische Gesundheit einer Nation waren, der einzige reale Ausdruck ihres Unterbewusstseins“. Für Le Carré selbst war der Geheimdienst ein alle Motive des Denkens, Handelns und Fühlens in sich bergender Mikrokosmos, der in seiner Geschlossenheit einen idealen Rahmen für die Darstellung der Torheit der menschlichen Komödie stellte. Balzac gehörte denn auch zu den Vorbildern des Schriftstellers.

Nimmermüde Tipp-Arbeiterin im Dienste ihres nur per Hand schreibenden Ehemanns: Le Carrés Frau Jane CornwellBodleian Libraries

So oft John le Carré auch zu erkennen gegeben hat, wie sehr es ihm widerstrebte, als Spion abgestempelt zu werden, der Schriftsteller geworden sei (statt als Schriftsteller, der vorübergehend im Geheimdienst tätig gewesen war), zog er doch in Bezug auf seine eigene Entwicklung als Kind eines kriminellen Hochstaplers, das von früh auf unfreiwillig in die Betrügereien des Vaters verstrickt wurde, immer wieder Parallelen zwischen Schreiben und Spionieren.

Le Carré fand, dass diese zwei Berufe wie füreinander geschaffen seien, weil beide einen wachen Blick für menschliche Verfehlungen und die vielen Wege zum Verrat erforderten. Er nannte sich einen „literarischen Überläufer“, bezeichnete die berufsbedingt ihr Umfeld bespitzelnde Autoren als Verräter jener Menschen, von denen sie abhängig seien („Je größer der Autor, desto größer der Verrat“), und er setzte die Täuschungen, die das Spionagegeschäft erforderten, mit der Erfindungsgabe eines kreativen Schriftstellers gleich.

Nichts von dem, was er schrieb, hielt er für authentisch

Diejenige John le Carrés beruhte auf akribischer Recherche und penibler Verfeinerung des Manuskripts. Er behauptete zwar, dass nichts von dem, was er schrieb, authentisch sei, sondern bloß ein „Stoff der Träume“. Welchen Aufwand er jedoch betrieb, um seine Fiktionen in eine authentische Kulisse einzubetten, und wie intensiv er an seinen Texten feilte, das macht jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod, die Ausstellung „Tradecraft“ der Bodleian Library in Oxford deutlich.

Le Carré hatte der Universitätsbibliothek sein voluminöses Archiv überlassen, weil er dessen Gegenwert mit der irgendwann fälligen Erbschaftsteuer verrechnen lassen konnte. Wie er dem Direktor schon vor bald zwanzig Jahren schrieb, als er auf dessen Vorschlag einging, seiner Alma mater die Akten anzuvertrauen, sei Oxford nicht nur seine eigene geistige Heimat, sondern auch die seiner Hauptfigur George Smiley, der wie sein Schöpfer ein Liebhaber vergessener deutscher Barockdichter war und in seiner Jugend sogar von einem Akademikerdasein geträumt hatte.

Scharfe Suggestion: Dieser rotbemalte Kieselstein mit der Aufschrift „zu reparieren“ diente John le Carré zur Kennzeichnung noch zu bearbeitender Manuskriptkonvolute.
Scharfe Suggestion: Dieser rotbemalte Kieselstein mit der Aufschrift „zu reparieren“ diente John le Carré zur Kennzeichnung noch zu bearbeitender Manuskriptkonvolute.Bodleian Libraries

„Tradecraft“ ist ein von Le Carré oft verwendeter Begriff für das Handwerk des Spionagegewerbes. In der Ausstellung wird er nun auf den Schreibprozess dieses Schriftstellers angewendet. Eine Fülle von Notizen, collagierten und vielfach überschriebenen Manuskripten, von Briefen und fotografischem Material aus dem Archiv veranschaulicht das müh­same Entstehen seiner Texte. Der erste Satz von „Der Nachtmanager“ ist in sechzehn Fassungen überliefert. Und die Notizen (wie alles von Le Carré ursprünglich handschriftlich verfasst und von seiner ergebenen Frau dann abgetippt) für diesen ersten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfassten Roman, mit dem der Autor beweisen wollte, dass er auch andere als Spionagestoffe meistern konnte, belaufen sich auf mehr als 600 Seiten, darunter ausführliche Anmerkungen über Flora und Fauna Panamas.

Die geheime Liebe des Autors zur Karikatur

Manche Berichte von Begegnungen mit Gesprächspartnern sind – wie im Falle von Le Carrés Besuch beim Palästinenserführer Jassir Arafat im Zusammenhang mit dem Roman „Die Libelle“ – ausformuliert, als wären sie zur Veröffent­lichung bestimmt. Anderswo tastet sich der Autor, der wie einige stilistisch erstaunlich vielfältige Blätter bezeugen, in jüngeren Jahren mit dem Gedanken spielte, Karikaturist zu werden, durch gekritzelte Porträts an seine Figuren heran.

Die Kostproben aus den insgesamt 1237 Archivkästen sind von dem Kriminologen Federico Varese, einem jener zahlreichen Fachleute, die Le Carré, wie er selbst bekannte, bei seinen Recherchen mit Fragen löcherte, und der auf den Kalten Krieg spezialisierten Historikerin Jessica Douthwaite ausgewählt worden, um möglichst viele Facetten der Biographie, des Werks und der Methode von Le Carré zu beleuchten. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt nicht bei den frühen Romanen über die Bruchlinien der Konfrontation zwischen Liberalismus und Kommunismus, die Le Carré berühmt gemacht haben.

Die geheime Liebe des jungen Le Carré war die Karikatur: die Figuren in seinem Skizzenbuch von 1953 bezeichnete er (auf Deutsch) mit „Oxforder Gesichter“.
Die geheime Liebe des jungen Le Carré war die Karikatur: die Figuren in seinem Skizzenbuch von 1953 bezeichnete er (auf Deutsch) mit „Oxforder Gesichter“.Bodleian Libraries

Vielmehr ist das Material thematisch um neun seiner 26 Romane herum gebündelt, bei denen Le Carré den Blick richtete auf moralische Ambiguitäten im Zusammenhang mit aktuellen Missständen, die sein Gerechtigkeitsempfinden geweckt hatten: so den il­legalen Waffenhandel in „Der Nacht­manager“), die menschenverachtende Korrup­tion der Pharmaindustrie („Der Ewige Gärtner“), den Nahost-Konflikt („Die Libelle“), die kriminelle Unterwelt im post-sowjetischen Russland („Verräter wie wir“) oder die wirtschaftliche Ausbeutung und politische Instrumentalisierung von Dritte-Welt-Ländern („Geheime Melodie“).

Eine frühere KGB-Größe sah sich selbst als George Smiley

Bei dieser Auswahl scheint sich der Wunsch Le Carrés, nicht der Nische der Spionageliteratur zugeordnet, sondern als Weltautor wahrgenommen zu werden, zu ergänzen mit Vareses persön­liches Engagement für den Autor, mit dem ihn er in Freundschaft verbunden war. Das spiegelt sich auch in dem von Varese als Begleitbuch zur Ausstellung herausgegebenen Essayband „Tradecraft“, unter dessen Beiträgen derjenige der Afrika-Spezialistin Michela Wrong über eine gemeinsam mit Le Carré unternommene Reise in die Demokratische Republik Kongo und die Beobachtungen des regimekritischen russischen Investigativjournalisten Andrei Soldatow über Le Carrés positive Rezeption durch den sowjetischen Geheimdienst als besonders aufschlussreich hervorstechen.

Dass der vom KGB gekommene Außenminister Jewgeni Primakow sich eher mit George Smiley als mit dessen sowjetischen Gegenspieler Karla identifiziert hat, dürften jene Kritiker Le Carrés als Bestätigung empfinden, die ihm vorwerfen, eine moralische Äquivalenz zwischen den Geheimdiensten des Westens und des Ostens nahegelegt zu haben. Dagegen spricht allerdings die Weigerung des Schriftstellers, den nach Moskau entkommenen Spion Kim Philby zu treffen, dem Le Carré nicht verzieh, dass er sein Land verraten hatte. Der Zorn, den Le Carré selbst gegen England richtete, war wohl der eines Patrioten, der sich von seiner Nation verraten fühlte, zuletzt wegen des Brexits.

Daraus wird einmal ein Roman werden: Le Carrés Notizen aus dem Jahr 1980  für das drei Jahre später erschienene Buch „Die Libelle“.
Daraus wird einmal ein Roman werden: Le Carrés Notizen aus dem Jahr 1980 für das drei Jahre später erschienene Buch „Die Libelle“.Bodleian Libraries

Verrat ist ein Dauermotiv im Leben und im Werk John le Carrés. Als Kind fühlte er sich von beiden Eltern verraten. In der ersten Vitrine dominiert symbolhaft für die in den Romanen evidente Wirkung, die der Vater auf den Sohn hatte, ein übergroßes Foto des betrügerischen Mannes. Darunter steht der weiße Koffer, den die Mutter mitnahm, als sie sich davonmachte – Le Carré war damals erst fünf Jahre alt. Als er sie wiedersah, war er schon erwachsen. Später erklärte er, dass er zum Lügen geboren sei: „Ausflüchte und Täuschungsmanöver waren die wichtigsten Waffen meiner Kindheit.“

Emblematisch dafür ist auch seine doppelte Identität. Als David Cornwell geboren, legte er sich den Schriftstellernamen John le Carré zu. Er hatte Briefköpfe mit beiden Namen: Le Carré für die offizielle Korrespondenz, Cornwell für die private. Wie die Ausstellung zeigt, brachte er die Bögen trotzdem bisweilen durcheinander. Wer er in seinen Widersprüchen wirklich war, bleibt ein Rätsel. Mit den vielen Selbstbekenntnisse schien er Sand in die Augen streuen zu wollen. In Oxford lebt der eigene Mythos nach.

John le Carré: Tradecraft. In der Bodleian Library, Oxford; bis zum 6. April 2026. Das Begleitbuch „Tradecraft: Writers on John le Carre“ kostet 30 Pfund.

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