Das alte England in neuem Gewand | ABC-Z

Der perfekte Start in diese Fußball-Europameisterschaft war es nicht für England. Aber die 1:2-Niederlage gegen Frankreich im ersten Gruppenspiel war wohl das Beste, was der Mannschaft passieren konnte. Denn das Team scheint dadurch nach den Störgeräuschen und Rücktritten gestandener Persönlichkeiten vor dem Turnier enger zusammengerückt zu sein. Die englischen Spielerinnen rafften sich auf, rauften sich zusammen – und besiegten nacheinander die Niederlande 4:0 und Wales 6:1. Am Donnerstag trifft England im Viertelfinale auf Schweden (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Frauenfußball-WM, in der ARD und bei DAZN).
„Mit der Niederlage kam der Druck, und ich denke, das Team hat gut darauf reagiert“, sagte Englands Nationaltrainerin Sarina Wiegman nach dem Spiel am Sonntag. Die Engländerinnen traten gegen Wales wie zuvor gegen die Niederlande von Beginn an mit dem Selbstverständnis eines Favoriten auf. Zur Pause stand es 4:0, insgesamt befanden sie sich gefühlt durchgehend in Ballbesitz. Es sah aus wie das England, das die EM 2022 gewonnen hatte und bei der WM 2023 bis ins Finale vorgedrungen war. Und das, obwohl einige der prominentesten Gesichter dieser Erfolge heute nicht mehr dabei sind.
Torhüterin Mary Earps und Fran Kirby sind in den Wochen vor der EM für die Öffentlichkeit überraschend aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Auch die erfahrene Abwehrspielerin und Vizekapitänin Millie Bright schloss eine Teilnahme am Turnier in der Schweiz aus und erklärte, sie sei gegenwärtig „weder mental noch körperlich in der Lage, hundert Prozent zu geben“. Die Entscheidung falle ihr schwer, aber sie sei „das Richtige für meine Gesundheit, meine Zukunft, das Spiel und vor allem für das Team“.
„Sie deckt viele Räume ab, die wir nicht abdecken können“
Doch die Unruhe, die dadurch ausgelöst wurde, wird England in der Vorbereitung und im Auftaktspiel gegen Frankreich nicht geholfen haben. Es war jedoch auch eine taktische Entscheidung der Trainerin, die zu der Niederlage beitrug. So verschob Wiegman Rechtsaußen Lauren James in die Mitte, auf die für sie eher ungewohnte Zehner-Position. Dadurch gingen Qualität auf der offensiven rechten Außenbahn und Stabilität hinter den Spitzen verloren. Das Experiment war misslungen.
Gegen die Niederlande und Wales spielte James dann wieder auf „ihrem“ Flügel, während Ella Toone, die gegen Frankreich erst spät eingewechselt worden war, die Zentrale übernahm. Mit Toone in der Startformation lief es erheblich besser. Die 25 Jahre alte Spielerin von Manchester United zeigt sich bei der EM ideenreich im und um den gegnerischen Strafraum und außerordentlich sicher bei Pässen im Zusammenspiel mit der Defensive. Das fällt auch ihren Mitspielerinnen auf. „Die Leute sprechen über ihre Offensivstärke, aber die defensive Arbeit, die sie für mich und Georgia Stanway leistet, ist unglaublich“, sagte die defensive Mittelfeldspielerin Keira Walsh über Toone: „Sie deckt viele Räume ab, die wir nicht abdecken können.“
Gegen Wales bereitete Toone zwei Tore vor und schoss eins selbst, bevor sie in der Pause ausgewechselt wurde. Mutmaßlich, um sie für das Viertelfinale zu schonen. Daran erkennt man die vielleicht größte Stärke des englischen Kaders: Er ist trotz der Rücktritte noch immer breit und tief genug, um taktisch nachzuschärfen und stark beanspruchten Spielerinnen auch mal eine Pause zu verschaffen. Wiegman neigt zwar dazu, an erfolgreichen Formationen festzuhalten. Aber gegen Wales tauschte sie nach und nach die gesamte Offensive aus; mit Beth Mead und der international noch vergleichsweise unerfahrenen Aggie Beever-Jones kamen gleich zwei Torschützinnen von der Ersatzbank.
Es ist eine Qualität, über die – jedenfalls in diesem Ausmaß – nicht viele Mannschaften bei der EM verfügen. Fans und Medien im Land blicken nun schon bis zum möglichen Endspiel voraus. Dazu muss England am Donnerstag zuerst Schweden und danach entweder Norwegen oder Italien besiegen. Obwohl sie in der Gruppe nur Zweiter geworden sind, befinden sie sich nun auf der freundlicheren Seite des Turnierbaums: Spanien, Frankreich und Deutschland können sie frühestens im Endspiel begegnen.
Sie werden jedoch erfahren genug sein, um Schweden nicht zu unterschätzen. Denn die Schwedinnen haben – anders als England – alle drei Gruppenspiele gewonnen und sich dabei kontinuierlich gesteigert: 1:0 gegen Dänemark, 3:0 gegen Polen, 4:1 gegen Deutschland. England mag dadurch seine Form gefunden haben, aber die Niederlage gegen den deutschen Viertelfinal-Gegner Frankreich hat auch Schwächen aufgezeigt. Wiegman warnt daher vor allem vor der Geschwindigkeit und der Konterstärke der Schwedinnen: „Sie sind eine Mannschaft, die schwer zu schlagen ist.“ Ella Toone stimmte ihrer Trainerin beim Sender TNT Sports grundsätzlich zu: „Wir haben sie neulich abends gesehen, und sie waren wirklich gut“, sagte sie über Schweden. Aus ihrer Sicht sind die Rollen trotzdem klar verteilt: „Ich glaube, sie sollten Angst haben.“