Comic-Kolumne: Jacques Tardis neuer Burma-Krimicomic | ABC-Z

Das sind so die Überraschungen einer langanhaltenden Leidenschaft: Vor mittlerweile achtundzwanzig Jahren schrieb ich an meinem ersten Buch: „Im Comic vereint“. Dafür entstanden Texte zu einigen meiner liebsten Autoren auf diesem Feld, und damals natürlich schon mit dabei war Jacques Tardi. Zu seinem Werk war kurz vorher in Frankreich der Band „Presque tout Tardi“ erschienen, der neben Selbstauskünften auch etliches Abseitige aus seinem Schaffen versammelte – sprich Dinge, die sich nicht in seinen sehr erfolgreichen Serien wie „Adèle Blanc-Sec“ oder den Erste-Weltkriegs-Comics fanden. Oder in so einflussreichen Einzelbänden wie „Der Dämon im Eis“, „Hier selbst“ oder „Der Kakerlakenkiller“. Da gab es etwa einige der Kohlezeichnungen, die Tardi 1994 im Louvre angefertigt hatte und die ich seitdem mehr liebe als irgendetwas sonst über den Louvre. Kinoplakatentwürfe, Werbezeichnungen und, und, und.
Unter diesen „und, und, und“ waren auch drei noch unfertige Seiten aus einem Abenteuer mit Nestor Burma, einer Figur von Léo Malet, dessen in den Fünfzigerjahren geschriebene Kriminalromane um den Privatdetektiv Burma seit 1982 von Tardi in mehreren Comics adaptiert worden sind. Doch das, was die drei Seiten boten, passte zu keinem von Malets insgesamt fünfzehn Nestor-Burma-Büchern.
Die unbekannte Geschichte aus dem XX. Arrondissement
Zwei dieser drei Seiten nahm ich dann als Bildbeispiele für Tardis Arbeitsweise in mein Buch auf, denn darauf war der Übergang von der Skizze zur getuschten Zeichnung wunderbar sichtbar. Aber es sollte eben siebenundzwanzig Jahre dauern, bis ich auch auf die fertigen Seiten stieß: im jüngsten Band von Tardi, „Du rififi à Ménilmontant!“, seinem ersten Nestor-Burma-Comic seit einem Vierteljahrhundert. Damals, im Jahr 2000, erschien „Wie steht mir Tod?“, die Adaption eines Malet-Krimis, der im X. Arrondissement von Paris spielt – die Serie wechselte von Roman zu Roman die Arrondissements, aber bevor Malet alle zwanzig durchbekam, gab er die Serie 1958 wieder auf. Und Ménilmontant ist ein Viertel, das im XX. Arrondissement liegt, einem der im Romanzyklus fehlenden Stadtteile. Zufällig aber der, in dem Tardi lebt.


Also musste es ihn reizen, dort einen Nestor-Burma-Comic anzusiedeln. Und Malet vertraute dem Zeichner nach anfänglicher Reserviertheit dermaßen, dass er ihm schon nach der zweiten Adaption, „120, rue de la Gare“ (bis heute das Meisterstück dieses Zyklus), die Erlaubnis gegeben hatte, sich der Figur Nestor Burmas für eine eigene Geschichte zu bedienen. Tardi schrieb daraufhin den Comic „Blei in den Knochen“, der 1989 erschien, griff danach aber wieder auf bereits existierende Romanvorlagen zurück. Zwei weitere Burma-Comics sollte es noch geben, aber nach Malets Tod im Jahr 1996 sank Tardis Enthusiasmus für die Sache.
Ein auf Eis gelegtes Projekt taucht auf
Was indes unbekannt geblieben war, ist, dass er 1990, unmittelbar nach „Blei in den Knochen“, eine weitere Nestor-Burma-Geschichte selbst geschrieben und von Malet auch genehmigt bekommen hatte: eben „Du rififi à Ménilmontant!“, zu Deutsch etwa „Krawall“ oder auch „Überfall in Ménilmontant!“. Und er hatte daran auch zu zeichnen begonnen – die drei unfertigen Seiten sind die drei ersten in der Geschichte. Meine Überraschung, als ich nun den neuen Band kaufte und las, war also riesig: Diese Anfangsszenen kannte ich doch, nur woher? Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Was ich in den Händen hielt, war ein Projekt, das Tardi vor fünfunddreißig Jahren auf Eis gelegt und nun wieder aufgetaut hatte.

Mittlerweile ist im französischsprachigen Fachmagazin „Les arts dessinés“ (Nr. 29, 2025) die Geschichte des so lange unterbrochenen und nun endlich abgeschlossenen Vorhabens rekonstruiert worden. Und so wissen wir, dass Tardi sich noch in der Schuld von Malet sah. Nach „Wie steht mir Tod?“ hatte er die Comicadaptionsaufgabe des restlichen Romanzyklus einem anderen Zeichner überlassen: Emmanuel Moynot, der sich graphisch ganz Tardis Figurenzeichnung anpasste („d’après les personnages de Tardi“ hieß es auf dem Cover neben dem Verfassernamen Léo Malet) und fortan einige weitere Nestor-Burma-Romane in Bilder setzte. Aber das Szenario zu seiner eigenen Geschichte rückte Tardi nicht heraus, und nachdem er vor drei Jahren seine seit 2008 ruhende Serie um Adèle Blanc-Sec mit dem zehnten Band endlich zum Abschluss gebracht hatte, fühlte er sich bereit, nun auch letzte Hand an Nestor Burma anzulegen. Immerhin ist Tardi mittlerweile achtundsiebzig.
Im XX. Arrondissement lebt er länger, als er Burma-Comics zeichnet: nahe am Friedhof Père Lachaise, wo die Pariser Kommune von 1871 ihr bitteres Ende nahm. Tardi versteht sich als Anarchist, die Kommune ist ihm heilig, hier gehört er hin, und dass er sich dort zu Hause fühlt, merkt man jeder Seite des neuen Burma-Bandes an. Seine eigene Straße spielt zwar keine explizite Rolle als Schauplatz, aber ein im Comic wichtiges Lokal liegt immerhin an deren Beginn. Und wer jemals bei Tardi zu Hause war, wird sich an diese dort so wenig metropolitane Stadtszenerie erinnern, die jetzt perfekt in „Du rififi à Ménilmontant!“ eingefangen ist.
Paris im Schnee, blutrot
Es ist Dezember 1957. Weihnachtsmänner in ihren roten Mänteln durchstreifen die Stadt (und hinter diesen Kostümen verbirgt sich mancher Gauner). Nestor Burma, schwer erkältet – was zu einigen burlesken, allerdings grafisch auch überaus explizit-ekelhaft ausgespielten Niesern führt –, ist wie üblich in Konkurrenz zu den borniert-arroganten Beamten der Pariser Kriminalpolizei auf der Suche nach einem Mörder. Bald nehmen die ungeklärten Todesfälle zu. Schmuddelwetter herrscht in der Stadt, und nicht nur wegen der Nikoläuse nimmt der blutrote Einschlag in den Straßen zu.
Wie üblich stolpert der Privatdetektiv bei seinen Ermittlungen über etliche Sonderlinge, die in die Mordserie verwickelt scheinen, aber meist dann selbst das Zeitliche segnen. Tardi hat sich den Spaß gemacht, etliche seiner Bekannten in den neuen Comic einzuzeichnen, darunter die Schriftsteller Didier Daeninckx und Daniel Pennac, von denen er jeweils schon Bücher zu Comics umgearbeitet hat, oder seine Frau Dominique Grange. Dazu findet man vom Zeichner bewunderte Künstler wie zum Beispiel den 1973 gestorbenen Schauspieler Noël Roquevert, der hier von Tardi in einer Rolle porträtiert wird, wie er sie zu jener Zeit, in der die Handlung angesiedelt ist, im Kino gespielt haben könnte. So persönlich und zugleich akribisch in den Details wie in „Du rififi à Ménilmontant!“ ist Tardi in den Burma-Comics noch nie gewesen.
Weihnachtsmänner, die ins Raster passen
Dabei fällt auch auf, dass Tardi ein grobes Farbraster über seine Zeichnungen gelegt hat, was es bislang noch in keiner Publikation aus seiner Feder gab. Damit wird die Anmutung einer billigen Comicproduktion der Fünfzigerjahre erzielt, und zugleich bietet das satte Blutrot, das als einzige Farbe rasterlos-dick gedruckt wird, einen auffälligen Kontrast – wobei die Weihnachtsmänner wiederum in rot gerasterten Mänteln stecken. Rot ist eben nicht immer gleich Blutrot.

Und Tardi zitiert sich selbst, etwa in einer Szene, als Nestor Burma nachts von einer Fahrradstreife der Polizei gestoppt wird: Und das könnten auch die beiden tölpelhaften flics aus der „Adele“-Serie sein, die hier aus der Zwischen- in die Nachkriegszeit versetzt sind. Ach ja, sich selbst hat Tardi natürlich auch einmal in sein Viertel versetzt: Auf dem letzten Bild von Seite 178 (von insgesamt 192) ist er eher flüchtig skizziert zusammen mit Dominique Grange als Passantenpaar vor dem Kino „Le Berry“ auf dem Boulevard de Belleville zu sehen, einem Filmtheater, das längst verschwunden ist. Und zwar lange bevor Tardi in den Siebzigern hierherkam. Aber in ihm hat Paris einen Bildhistoriker gefunden, der in seinen Comics die Stadt in allen ihren Erscheinungsweisen seit 1871 vorstellt.
Ein reifes Alterswerk, eine feurige Liebeserklärung, eine unverhoffte Wiederbegegnung und eine neue Nestor-Burma-Geschichte – mehr kann man kaum erwarten. Sicher auch nicht eine weitere Fortsetzung der Nestor-Burma-Serie durch Jacques Tardi, auch wenn ja nun nur noch vier Arrondissements zur kompletten Stadttopographie fehlen. Aber Ménilmontant, das war Pflicht für Tardi. Und sicher auch, endlich das letzte gemeinsam vereinbarte Werk von ihm und Malet abzuschließen. Offene Projekte gibt es nun nicht mehr für den größten lebenden Comiczeichner Frankreichs … Moment, da ist doch noch eines: die Reihe von Céline-Romanen, die Tardi illustriert hat. Als wir uns das letzte Mal trafen, waren gerade die seit Kriegsende verschollen geglaubten Manuskripte dieses enfant terrible der französischen Literatur aufgetaucht. Tardi brannte darauf, auch sie wie schon drei frühere Bücher des Schriftstellers mit seinen Bildern zu ergänzen. Mutmaßlich dürfte er jetzt daran sitzen. Denn in Frankreich schlägt man einem Tardi nichts ab.