Christlich Demokratische Union: Dennis Radtke – „Die SPD meiner Großväter ist völlig tot – eine reine Apparatschik-Partei“ | ABC-Z
Dennis Radtke ist der neue Chef des Sozialflügels der CDU. Seine Differenzen mit Parteichef Merz spielt er im Gespräch herunter. Stattdessen geht er vor allem die SPD hart an. Es sei in der Merkel-Ära nie so sozial ungerecht zugegangen wie heute, sagt Radtke. Und nennt den großen Verlierer.
Dennis Radtke sitzt am Steuer. „In meiner Karre“, wie er sagt. Der neue Chef des Sozialflügels der Union (CDA) ist im Revier unterwegs. Seinem Revier. Von ThyssenKrupp in Duisburg fährt er zur Dortmunder Messe: Tiefes Ruhrgebiet, hier ist Radtke aufgewachsen und verwurzelt.
„Bei ThyssenKrupp ist die Hölle los, ich sag’ es Ihnen“, ruft er über die Freisprechanlage. Es ist der typische Zungenschlag des Bochumers. Als Nachfolger von Karl-Josef Laumann wird Radtke künftig in der Union mitreden, wenn es um Sozialpolitik geht.
Einfach wird das nicht. In vielen Punkten vertritt der Europaabgeordnete andere Positionen als die seines Parteichefs. Als „Anti-Merz“ hatte ihn WELT letztes Jahr betitelt; Radtke ist von solchen Zuschreibungen eher genervt. Klar: Es gebe Differenzen in der Union. Aber am Ende werde man sich schon einig – bestenfalls als Partei, die die nächste Regierung anführt.
WELT: Herr Radtke, Sie kommen gerade von ThyssenKrupp. Dort, in ihrer Heimat, aber auch anderswo im Land, werden in der Industrie im großen Stil Stellen abgebaut. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Dennis Radtke: Als brandgefährlich. Viele Arbeitnehmer rennen zur AfD. Und wenn die Menschen den Eindruck haben, die politische Mitte kümmert sich nicht mehr darum, dass ihre Jobs zukunftssicher sind, dann wird diese Entwicklung ungebremst weitergehen. Was da gerade passiert, macht mir große Sorgen.
WELT: Wo würden Sie sich denn selbst politisch einordnen?
Radtke: In der Mitte. Ich stehe in der Mitte der CDU.
WELT: Und wer steht dann links in der CDU? Oder gibt es das gar nicht mehr?
Radtke: Ich bin christlich-sozial. Wenn das für einige links in der CDU ist, dann ist es eben so. Es gibt ja immer eine Sehnsucht, Menschen in eine Schublade zu stecken: in die Schublade „Anti-Merz“ oder in die Schublade „linker Flügel“ oder sonst irgendetwas. Aber die Welt ist nicht schwarz und weiß und ich passe mit meinem dicken Hintern auch nicht in jede Schublade, in die mich manche gerne stecken wollen.
WELT: Dann weg von Schubladen, hin zu Inhalten. Ein aktuelles Thema in der Ampelregierung ist mehr Tarifbindung, Sie finden das gut. Mit dieser und anderen Positionen dürften Sie in der Union aber keine Mehrheit finden.
Radtke: Naja, Entschuldigung, hohe Tarifbindung ist ein Wesensmerkmal der Sozialen Marktwirtschaft. Und wenn wir als CDU in jeder Sonntagsrede mit stolzgeschwellter Brust erklären, wir seien die Väter und Mütter der Sozialen Marktwirtschaft, dann müssen wir uns auch zu einer starken Tarifbindung bekennen. Das hat für mich nichts mit links zu tun.
WELT: Sie waren mal in der SPD. Warum sind Sie denn überhaupt in der CDU?
Radtke: Meine Sozialisierung ist typisch für das Ruhrgebiet. Meine Großväter haben bei Krupp gearbeitet, waren lange in der SPD aktiv und haben mich zu allen möglichen Veranstaltungen mitgenommen. Wenn du so aufwächst, dann stolperst du irgendwann als Jugendlicher automatisch da rein. Irgendwann habe ich mich aber gefragt: Bin ich das Maskottchen meiner Großväter oder was ist eigentlich meine Rolle? Schon damals zeigte sich: Die SPD meiner Großväter ist völlig tot – eine reine Apparatschik-Partei. Das ist nicht meine Welt. Deswegen bin ich schon 2002 in die CDU gewechselt.
WELT: Fremdeln Sie manchmal mit der Union?
Radtke: Wieso sollte ich fremdeln?
WELT: Beispielsweise bei Äußerungen von Alexander Dobrindt, die überhaupt nicht zur sozialethischen Grundhaltung des CDA passen.
Radtke: Es gibt eine große Bandbreite in der Union. Diese Vielfalt ist unsere Stärke. Und mit dem, was ich bin und für das, was ich kämpfe, habe ich mich ja offenkundig auch in der CDU und CDA durchgesetzt. Mein politisches Mandat und meine Funktionen sind nicht das Ergebnis eines Lottogewinns, sondern von innerparteilichen Wahlen. Es gibt dieses Bild von mir: Der einsame Marlboro-Mann, der dem Sonnenuntergang entgegenreitet. Das ist zwar wirklich ein schönes Bild – aber es passt einfach nicht.
WELT: Mit Parteichef Merz haben Sie sich kürzlich ablichten lassen, demonstrierten auf Instagram Einigkeit. Aber was machen Sie, wenn er als möglicher nächster Kanzler bald das Gegenteil von dem, was sie fordern, durchsetzt?
Radtke: Wir sind uns in vielem einig, vor allem in der Frage, dass er Bundeskanzler werden soll. Es gibt Dinge, die ich einfach anders sehe als Herr Merz, aber da muss man nicht immer einen Konflikt draus konstruieren. Friedrich Merz hat sein politisches Profil seinerzeit als Flügelstürmer geschärft. Aber seit zweieinhalb Jahren ist er in einer anderen Rolle, nämlich als Parteivorsitzender und jetzt als Kanzlerkandidat.
Seine Aufgabe ist es, aus der Mitte heraus die unterschiedlichen Interessen in der Partei, die es natürlich gibt, auszubalancieren. Das gelingt bisher gut und wird mit Blick auf den Wahlkampf ebenfalls funktionieren. Am Ende entscheidet die Frage der Geschlossenheit und der Balance, ob wir erfolgreich sind oder nicht.
WELT: Dann ganz konkret: Ob Merz, Söder oder Linnemann: Die Führungsriege in der Union will das Bürgergeld „abschaffen“. Ist das eine gute Idee?
Radtke: Langzeitarbeitslosen die Unterstützung zu entziehen, ist politisch nicht zu vertreten. Aber das Bürgergeld soll auch nicht ersatzlos abgeschafft werden, sondern durch eine neue Form der Grundsicherung ersetzt werden. In Talkshows geht es ja ständig um die Gruppe der Totalverweigerer, aber wir müssen uns auch stärker damit auseinandersetzen, dass wir 20 Prozent Aufstocker im Bürgergeld haben: Menschen, die arbeiten gehen, von ihrer Arbeit nicht leben können und deswegen ergänzend Bürgergeld bekommen. Das christliche Menschenbild bedeutet nicht, dass der Staat Menschen langfristig bestmöglich alimentiert. Der Anspruch muss doch sein, dass wir für möglichst viele Menschen Teilhabe organisieren, sodass sie selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen.
WELT: Neulich schrieben Sie auf X: „Nie war es ungerechter als unter Scholz“. Was meinen Sie damit?
Radtke: Während der Inflationskrise hat die Bundesregierung viele Menschen im Stich gelassen. Kein Wunder, dass die Konsumlaune immer noch im Keller ist. Die Entlastungen waren weder zielgenau noch ausreichend. Für viele mit mittleren und niedrigen Einkommen war diese Zeit ein Desaster – die Arbeitnehmer sind die größten Verlierer dieser Scholz-Regierung.
WELT: Aber die gesetzliche Erhöhung des Mindestlohns, deutlich höhere Bürgergeldsätze, das Qualifizierungsgeld und bald das Rentenpaket: Das hat die SPD alles durchgesetzt, nachdem Ihre Partei raus aus der Regierung war. Und trotzdem soll Deutschland heute sozial ungerechter sein, als es noch unter Merkel der Fall war?
Radtke: Definitiv. Viele Menschen fragen sich mittlerweile: Warum gehe ich eigentlich überhaupt noch fünf oder sechs Tage arbeiten, wenn ich mit dem, was ich erarbeite, kaum über die Runden komme? Das Aufstiegsversprechen, das immer Wesensmerkmal der sozialen Marktwirtschaft gewesen ist, dass man es mit Fleiß und Anstrengung zu etwas bringen kann – dieses Aufstiegsversprechen ist schlicht und ergreifend tot. An diese Thematik muss eine CDU-geführte Bundesregierung ganz dringend an.
WELT: Die letzte CDU-geführte Bundesregierung fand es ja in Ordnung, bei Gaslieferungen abhängig von Russland zu sein. Das war doch eine der Ursachen der Energiekrise.
Radtke: Das stimmt, das war falsch, aber die Frage ist ja, wie reagiert man auf Notsituationen? Gerade in der Energiekrise: Warum haben meine Frau und ich 300 Euro Einmalzahlung erhalten? Es ist doch nicht notwendig, Menschen wie mich zu entlasten. Auch die Pendlerpauschale lief gerade für diejenigen, die wenig Steuern zahlen, völlig ins Leere. Wir hingegen haben Rabatte für Grundnahrungsmittel vorgeschlagen für Menschen, die unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze verdienen oder auch ein gestaffeltes Mobilitätsgeld. Die Ampel hat sich für das Modell Gießkanne entschieden. Mit fatalen Konsequenzen.
WELT: Die Union hätte das ganz zielgerichtet und besser gemacht, wollen Sie damit sagen?
Radtke: Das Problem ist natürlich komplex. Die soziale Ungerechtigkeit ist eine Entwicklung, die sich in den letzten 30 Jahren potenziert hat. Auch der Wohnungsmarkt und die niedrige Eigentumsquote spielen eine Rolle: Eine große Fehlentwicklung, die Herr Schröder seinerzeit unter Rot-Grün in Gang gesetzt hat.
Der steuerfreie Verkauf von Unternehmensbeteiligungen beispielsweise führte dazu, dass Unternehmen, die riesige Bestände an Werkswohnungen hatten, diese in Gesellschaften gebündelt und an ausländische Investoren verkauft haben. Damit hat man die Spekulanten auf den deutschen Immobilienmarkt geholt. Unter den fatalen Folgen leiden wir noch heute. Die hohen Preise haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen kaum noch etwas von ihrem Erarbeiteten übrigbleibt.
WELT: Arbeitsminister Heil will nun einen Mindestlohn von 15 Euro und macht Druck auf die zuständige Kommission. Halten Sie das für eine gute Idee?
Radtke: Das ist nichts anderes als die Vorbereitung des Bundestagswahlkampfes. Als Berichterstatter im Europäischen Parlament für die Mindestlohn-Richtlinie befürworte ich die Orientierung an 60 Prozent des Medianlohns als Maßstab des Mindestlohns. Aber der politische Überbietungswettbewerb führt dazu, dass bald 18 oder 19 Euro auf den Wahlplakaten stehen. Stattdessen braucht es auf Dauer einen Mechanismus, der einen angemessenen Mindestlohn sicherstellt.
WELT: Moment, wenn Sie sagen, die Orientierung an 60 Prozent ist sinnvoll, dann fordern Sie doch dasselbe wie Heil.
Radtke: Ja, aber Heil möchte die Politisierung der Mindestlohnkommission fortsetzen, um das als Wahlkampfschlager für die SPD zu erhalten. Ich bin für eine Orientierung, wie sie die Richtlinie vorgibt. Damit wäre das Thema Mindestlohn ein für alle Mal entpolitisiert.
WELT: Und die Mindestlohnkommission überflüssig.
Radtke: Genau so ist es.
WELT: Also fordern sie die Auflösung?
Radtke: Ich habe die Idee einer Kommission immer begrüßt. Aber in der CDU haben wir irrigerweise geglaubt, das sei so eine Art Simulation von Tarifverhandlungen. Das ist aber nicht der Fall, weil die Kommission die Instrumente gar nicht hat, die in normalen Tarifverhandlungen zur Verfügung stehen. So wie es jetzt ist, kann es einfach nicht bleiben. Es braucht einen anderen Modus.
Jan Klauth ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Arbeitsmarkt-Themen, Bürgergeld, Migration und Sozialpolitik sowie Karriere-Themen. Den zugehörigen Newsletter können Sie hier abonnieren. 2023 und 2024 arbeitete er für einige Monate in den USA.