Christian Wulff: Und jetzt alle | ABC-Z
Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt die Nationalhymne gesungen? Fehlerfrei ist gar nicht nötig, bei Sarah Connor ging es im Jahr 2005 in der Münchner Allianz Arena ja auch halbrichtig: “Brüh im Lichte dieses Glückes“, manchmal sind kleiner Fehler wahrer als das Original. Was auch immer Ihre Antwort ist: Vermutlich ist es viel zu lange her, da verhält es sich mit der Hymne wie mit der letzten professionellen Zahnreinigung. Jedenfalls, wenn es nach Christian Wulff geht. “Gerade unsere Nationalhymne”, sagt Wulff jüngst der Neuen Osnabrücker Zeitung, “ist ein Symbol für unsere demokratischen Werte und unseren Zusammenhalt.” Eben deshalb müsste sie öfter gesungen werden, ganz besonders in Schulen.
Die Älteren werden sich erinnern: Christian Wulff war mal Bundespräsident, er kennt sich also aus mit deutschen Werten und Symbolen. 2012 stolperte Wulff über ein vermeintlich fremdsubventioniertes Bobbycar und musste nach 598 Tagen im Amt zurücktreten. Das war weder für ihn schön noch für Deutschland. Ganz oben. Ganz unten hieß 2014 Wulffs Buch zum Trauma.
Mittlerweile ist zum Glück alles wieder gut: Wulff ist Präsident des Deutschen Chorverbands und vertritt 13.000 Hobby- und Profi-Ensembles mit mehr als 750.000 Sängerinnen und Sängern. Sein Motto: “Wir sind ganz Chor”. Wulff hat also geschafft, wovon sein Amtsvorgänger Walter Scheel nur träumen konnte. Während Scheel 1973 als Staatsoberhaupt noch selbst hoch auf den gelben Wagen klettern musste, um selbigen musikalisch zu beschmachten (und so die Hitpararade zu stürmen), ist Wulff bereits eine Eskalationsstufe weiter: Er lässt singen.
Gotthilf für Deutschland
So ähnlich wie Gotthilf Fischer, der Gott-hab-in-selig des deutschen Lied-Dirigats. Unsichere Hymnen-Kantonisten können dank YouTube noch heute bei dem 2020 verstorbenen Fischer Nachhilfe nehmen, in Sachen Texttreue und Ausdruck. Fischers 1991er-Synthesizer-Version des Deutschlandlieds etwa ist ein Klassiker. Oder nehmen wir seine Hymne auf Baden-Württemberg, da muss auch den Patrioten in der Sächsischen Schweiz oder im erzgebirgischen Aue-Bad-Schlema das Herz aufgehen: “Ein Land mit Wald und Reben / ein Land von Gott gegeben / mit Liedern und Gesang / hält mich ein Leben lang / Gottes schönes Werk: / Baden-Württemberg.”
Apropos, Gotthilf Fischer: 2008 wandte sich der Chordirigent per Brandbrief an den Bundespräsidenten (der hieß damals Horst Köhler) und forderte ihn auf, im Sinne des patriotischen Bildungsauftrags gegen die Absetzung von Volksmusiksendungen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vorzugehen. “Jetzt muss der höchste Repräsentant unseres Landes ein Machtwort sprechen”, war Fischer überzeugt. Köhler schwieg.
Aber jetzt spricht Christian Wulff, und es geht ihm um mehr als An der Saale hellem Strande oder die berufliche Zukunft von Florian Silbereisen. Es geht ihm ums große, deutsche Ganze, die patriotische Sing- und Bekenntnispflicht, kurz: die Hymne. Natürlich verbeugt sich da auch jemand vor Fußballdeutschland und dem Kaiser. 1984 regte sich der zu Beginn seiner Bundestrainerregentschaft noch furchtbar über die mangelnde Hymnendisziplin seiner Spieler auf. O-Ton Franz Beckenbauer: “Der eine bohrt in der Nase, der nächste kaut Kaugummi und ein anderer schaut in der Gegend herum.” Insubordination kann ein Kaiser natürlich nicht dulden. Also verdonnerte Beckenbauer die Nationalelf kurzerhand zum Hymnen-Singen, und das bei jedem Spiel. Musikalisch ertüchtigt klappte es dann auch sechs Jahre später mit der Fußballweltmeisterschaft in Italien. Seitdem ist die Hymne für die Kicker mit dem Adler Pflicht. Und singt einer mal nicht, so wie Mesut Özil 2018, gibt es eine Sport1-Krisen-Runde mit Oliver Pocher und Stefan Effenberg als Experten für adäquate Intonierung.
Vorsingen statt verordnen
Nun ist “Die Mannschaft” aber, anders als der Kosename nahelegt, keine Demokratie. Da sagt der Trainer, was zu tun ist, und die Spieler folgen, wenn sie nicht wie Effenberg 1994 nach seinem Stinkefinger bei der WM in den USA aus dem Kader fliegen wollen. In einer Demokratie dagegen kann man Patriotismus nicht verordnen, nicht verlangen. Man kann höchstens freundlich lächelnd für ihn werben und mit gutem Beispiel voransingen. So wie Horst Köhler 2009, als er als Bundespräsident einige DDR-Bürgerrechtler auszeichnen und zugleich in Gotthilf-Fischer-Manier zum Hymnen-Singen animieren wollte. Dafür hatte Köhler extra den Liedermacher Stephan Krawczyk als Verstärkung ins Schloss Bellevue geladen. Nur intonierte der versehentlich die erste Strophe, die schon die Nazis gerne zum Besten gaben. Da schauten die Bürgerrechtler aber betreten auf die Schuhe. Ein rbb-Video-Schnipsel legt nahe: Horst Köhler selbst sang mit, auch wenn das Bundespräsidialamt dies damals dementierte.
Nehmen wir für ihn an, dass Köhler nur falsch verstanden wurde. Gleichwohl zeigt das Beispiel: Wulff hat recht. Wer keine Grundsatzfehler bei der Hymne machen will, muss üben, üben, üben. Das gilt in der Politik genauso wie im Fußball. Deshalb jetzt bitte alle und möglichst laut: “We are the Champignons, my friends!”
Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt die Nationalhymne gesungen? Fehlerfrei ist gar nicht nötig, bei Sarah Connor ging es im Jahr 2005 in der Münchner Allianz Arena ja auch halbrichtig: “Brüh im Lichte dieses Glückes“, manchmal sind kleiner Fehler wahrer als das Original. Was auch immer Ihre Antwort ist: Vermutlich ist es viel zu lange her, da verhält es sich mit der Hymne wie mit der letzten professionellen Zahnreinigung. Jedenfalls, wenn es nach Christian Wulff geht. “Gerade unsere Nationalhymne”, sagt Wulff jüngst der Neuen Osnabrücker Zeitung, “ist ein Symbol für unsere demokratischen Werte und unseren Zusammenhalt.” Eben deshalb müsste sie öfter gesungen werden, ganz besonders in Schulen.