Kultur

Dale Websters täglicher Wellenritt: Ist das Besessenheit? Ist das Irrsinn? | ABC-Z

Wer wüsste es nicht: Wir brauchen Rituale, um unsere Ziele zu erreichen. Klare Strukturen, die keinen Platz für Ausreden lassen. Die Morgengymnastik zum Beispiel, sagt mein Fitnessguru, müsse sein wie Zähneputzen. Eine Selbstverständlichkeit, nicht verhandelbar. Reine Routine. Nur so macht es Sinn. Nur so ist es wirksam. Ohne kleine, scheinbar banale Rituale kippt der schönste Vorsatz schneller, als man denkt.

Das ist das Eine. Das andere ist: Manche Menschen neigen zum Sammeln. Manche sammeln Briefmarken, manche Oldtimer. Wieder andere sammeln Marathonläufe. Finisher-Hemdchen, Trophäen. Jäger und Sammler – wir treffen sie überall im Sport. Und es gibt, wie so oft, ein Zwischending. Ritual trifft Sammler. Da wird es interessant. Wie bei Dale Webster, um den es hier vor allem gehen soll. Er sammelte Tage auf dem Wasser. Auf dem Surfbrett. Er tat es vierzig Jahre lang.

Ohne einen einzigen Tag auszulassen, schob er sein Surfbrett ins Meer und paddelte hinaus, egal ob der Pazifik am Morgen launisches Weißwasser servierte, sich von seiner Postkarten-Seite zeigte oder fette Brecher an den Strand schickte. Exakt 14.642 Tage in Serie sollen es gewesen sein. Er surfte an Weihnachten und an Neujahr, an Tagen mit Beerdigungen und an Tagen mit Hochzeiten, und wenn die Wellen einmal ausblieben, paddelte er trotzdem hinaus, um das Ritual nicht zu zerstören. Er war draußen bei Sonne, Sturm, Nebel, Kälte – eine Gestalt in Shorts oder Neopren, die so verlässlich kam wie die Gezeiten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Webster lebte in Bodega Bay in Nordkalifornien – kein tropisches Paradies, sondern eher eine wilde, oft unberechenbare Küste. Ein Ort, an dem der Wind die Haare nach hinten föhnt und das Wasser nie wirklich warm wird. Für ihn war es trotzdem Heimat. Keine Welle sei eine schlechte Welle, pflegte er zu sagen. Kein Tag sei es wert, ihn nur auf dem Trockenen zu verbringen. Und so schob er tagein, tagaus sein Surfbrett in die Wellen und paddelte hinaus.

Er war nur einfach immer da

Seine Serie endete erst, als es gar nicht mehr anders ging: Am 5. Oktober 2015 musste Webster wegen einer Nierenstein-Operation ins Krankenhaus. Zum ersten Mal nach 40 Jahren fehlte er am Strand. Jetzt ist er im kalifornischen Städtchen Rohnert Park gestorben, 76 Jahre alt. Es gab keine Abschiedsparade für ihn, kein „Paddle Out“, womit Surfer verstorbene Freunde bisweilen ehren. Webster war kein Sportler wie sie. Kein Wettkämpfer mit Trophäen im Regal. Er war nur einfach immer da. Vierzig Jahre lang.

Ron Hill: Kein Tag, ohne mindestens eine Meile gelaufen zu sein.
Ron Hill: Kein Tag, ohne mindestens eine Meile gelaufen zu sein.picture alliance

Was nach außen wie eine Besessenheit wirkt, war für ihn schlicht Alltag. Aus einem Ritual war ein Lebenslauf geworden: jeden Tag das Brett, der Weg ans Meer, das Eintauchen in die Wellen. Eine jahrzehntelange, unbeirrbare Routine. Ein gleichmäßiger Rhythmus. Den haben auch schon andere Sportler ins Extreme getrieben. Ron Hill etwa, ein Marathonläufer aus England, lief 52 Jahre lang jeden Tag mindestens eine Meile. Ist das Irrsinn? Die endlose Wiederholung des Immergleichen?

Webster und Hill hätten das sicher verneint. Jeder Tag dort draußen ist anders, das Meer, das Wetter, die Straßen, das Licht, die Stimmung. Was andere für Besessenheit halten, war für sie Normalität. Struktur. Ritual. Ob man sich daran ein Beispiel nehmen kann? Im Kleinen gewiss. Müssen ja nicht vierzig Jahre im Schwimmbad werden. Vierzig Tage Morgengymnastik wären schon mal ein Anfang.

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