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Nach Eklat mit Selenskyj: Die Europäer wollen Trump wieder gnädig stimmen – durch einen Kniff | ABC-Z

Der Disput mit Präsident Selenskyj macht den Europäern klar: Trump meint es ernst mit seinen Drohungen gegen Verbündete. Auf dem Gipfel in London schmieden Spitzenpolitiker nun Pläne für die Verteidigung Europas. Das Treffen ist vor allem eine Charmoffensive für den US-Präsidenten.

Den allerletzten Warnschuss von Donald Trump haben die Europäer jetzt gehört. Das zumindest wollten sie auf dem Sondergipfel in London vermitteln. Dort schmiedeten westliche Spitzenpolitiker gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erste Pläne, wie sie den Frieden in der Ukraine bei einem Waffenstillstand absichern und das kriegsgebeutelte Land weiter unterstützen können. Es ging auch um die Aufrüstung Europas. Er habe von Trump grünes Licht für diese Vorhaben bekommen, sagte der britische Regierungschef Keir Starmer, der zu dem Treffen eingeladen hatte. Ein wichtiges Detail. Denn auf dem Gipfel ging es nicht nur um die Sicherheit in Europa und der Ukraine, sondern auch darum, Trump gnädig zu stimmen.

Der Eklat zwischen Selenskyj und Trump am Freitag vor laufenden Kameras bedeutete eine Zäsur für die Europäer. Auf die sicherheitspolitische Partnerschaft mit den USA ist für Verbündete kaum noch Verlass. Das wurde den Europäern vor Augen geführt, als Trump Selenskyj offen damit drohte, die Ukraine militärisch fallen zu lassen. Trumps Vize J.D. Vance warf dem ukrainischen Präsidenten Undankbarkeit für die US-Hilfen vor. Zudem betonte Trump, er vertraue Russlands Präsident Wladimir Putin. Bislang versucht Trump, für einen Waffenstillstand vor allem Russlands Positionen durchzusetzen: Die Ukraine soll ohne Verhandlungen Gebiet abtreten, niemals Nato-Mitglied werden und könne sich nicht auf Sicherheitsgarantien durch die USA verlassen.

Auf dem Gipfel sollte es nun darum gehen, welche Sicherheitsgarantien die Europäer denn beisteuern könnten. Trump stellt diese Frage immer wieder; außerdem verlangt er von den Nato-Verbündeten inzwischen, fünf Prozent ihrer Wirtschaftskraft in ihre Verteidigung zu investieren. Trump nimmt die Europäer in die Pflicht, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.

Britische Soldaten könnten „in der Luft und am Boden“ Ukraine sichern

Vor allem eines wird deutlich, als die westlichen Spitzenpolitiker nach ihren Gesprächen vor die Presse treten: Europäische Sicherheitsgarantien für die Ukraine ohne die USA sind ausgeschlossen. Sowohl Starmer als auch Bundeskanzler Olaf Scholz pochten in ihren Stellungnahmen immer wieder darauf, wie wichtig die transatlantische Zusammenarbeit auch in Zukunft für die Verteidigung Europas sei. Zwar betonten beide, die ukrainische Armee müsste so gestärkt werden, dass sie sich künftigen russischen Angriffen widersetzen müsse. Und sie kündigten an, einen Beitrag zu leisten. Allerdings blieb Scholz im Gegensatz zu Starmer vage bei den Details. Der britische Premierminister wiederholte sein Angebot, britische Truppen in die Ukraine zu senden, um den Frieden dort abzusichern, „in der Luft und am Boden“. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versicherte bereits, er sei bereit zur Entsendung von Truppen für Friedensmissionen.

Doch allen Beteiligten in London war klar: Alle europäischen Armeen zusammengenommen wären nicht in der Lage, den Frieden in der Ukraine ohne die USA abzusichern. Ob nukleare oder konventionelle Schlagkraft, Logistik oder Kommandoebene, Satelliten-Aufklärung oder schwerer Lufttransport: Die Europäer sind auf das Bündnis mit den Vereinigten Staaten angewiesen. Die Ukraine müsste die ehemalige Front mit etwa 200.000 Soldaten gegen erneute russische Angriffe sichern, um Putin glaubhaft abzuschrecken. Die Militär-Experten Claudia Kleemann und Aldo Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) berechnen die dafür nutzbaren ukrainischen Truppen und kommen auf „eine zusätzlich notwendige westliche ideale Kontingentstärke von etwa 150.000 Soldaten“. Damit nicht genug: Die Truppen müssten rotieren, sagt Oberst Markus Reisner, Militärexperte im Österreichischen Bundesheer, ntv.de. Ein Kontingent ist im Einsatz, eins regeneriert sich vom letzten Einsatz, eins bereitet sich auf den nächsten Einsatz vor. Macht 150.000 mal drei.

Militärische Fähigkeiten dieser Größenordnung können nur die Amerikaner vorweisen. So verwundert es nicht, wie oft Starmer betonte, er hätte niemals zum Gipfel eingeladen, hätte er sich nicht zuvor beim Telefonat mit Trump dessen Segen dafür abgeholt. Denn das ist die große Lehre, die Europa aus dem Eklat mit Selenskyj im Oval Office ziehen kann: keine Entscheidung über Trumps Kopf hinweg. Zwar betonte Scholz in London, es dürften auch keine Beschlüsse über die Köpfe der Ukrainer hinweg getroffen werden. Es dürfe nicht um die Durchsetzung von Russlands Interessen gehen. Es dürfe keine Diskussionen über die Demilitarisierung der Ukraine geben. Aber Scholz kann fordern, was er möchte: Falls Trump den Daumen senkt, ist die Entscheidung schon gefallen.

Europäer brauchen Binnenmarkt für Rüstungsindustrie

Vermutlich wurden auch deshalb kaum Details bekannt zu den Plänen, die in London geschmiedet werden sollten. Niemand will Trump während des Versuchs einer Charmeoffensive den Vorwand liefern, sich brüskiert vorzukommen. Allerdings sei schon lange klar, was die Europäer neben der Verstärkung ihrer Truppen bräuchten, um verteidigungspolitisch unabhängiger von den USA zu werden, sagt Politologe Thomas Jäger ntv.de: „Erstens viel Geld und zweitens einen Plan, wie man dieses Geld in Rüstungsgüter umsetzt, um das auszugleichen, was die Vereinigten Staaten jetzt möglicherweise zurückfahren.“ Dabei geht es vor allem um Aufbau eines gemeinsamen EU-Binnenmarkts für Rüstungsindustrie.

Oberst Reisner hält es außerdem für nötig, „die Rüstungswirtschaft in Teilen zu verstaatlichen, damit die privatwirtschaftlichen Unternehmen nicht mehr permanent die Preise erhöhen und die Rüstungsgüter dadurch zu teuer werden.“ Es werde vor allem teuer, weil andere europäische Staaten nun Gespräche mit Großbritannien und Frankreich suchen, um über eine nukleare Abschreckung für Europa ohne die USA zu reden. Zudem hätten die meisten europäischen Staaten Personalprobleme, weil sie Berufsarmeen haben. Die Diskussionen um die Einführung der Wehrpflicht in Deutschland sei bitter nötig, obwohl solche Beschlüsse unpopulär seien. „Das sind Entscheidungen, die Menschen grundsätzlich verwirren und einschüchtern und verängstigen. Aber das ist das Problem: Wir erleben gerade Geschichte und kein Mensch weiß, wie es ausgeht“, sagt Reisner.

Die Entscheidung, wie es weitergeht, liegt momentan vor allem in Trumps Händen. Wird Trump die Europäer weiter für ihre militärische Schwäche belächeln? Bislang hat er sie nicht an den Verhandlungstisch eingeladen, um über den Frieden in der Ukraine zu sprechen. Wird Starmers eilig einberufenen Sondergipfel Trump milde stimmen? Er hatte bereits in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident deutlich gemacht, wie genervt er von den niedrigen Verteidigungsausgaben der Europäer ist. Wird Trump sich weiter in Drohgebärden üben – und sich nach Selenskyj den nächsten Regierungschef vorknöpfen, um ihn vor den Augen der Weltöffentlichkeit abzukanzeln?

Experte nennt Starmers Schachzug „clever“

Die Europäer können darauf hoffen, dass es nicht so kommt. Denn Starmer hat Trump durch den Gipfel eine Brücke gebaut. In einem nächsten Schritt will Starmer die Pläne, die in London geschmiedet wurden, Trump vorlegen. Dieser Schachzug sei „clever“, sagt Klemens H. Fischer, Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Universität zu Köln, im Gespräch mit ntv. „Man sagt: Wir schicken das nicht den Russen, wir übermitteln es den Amerikanern und holt damit Trump wieder ins Boot zurück“, so Fischer. Dadurch fühle Trump sich aufgewertet.

In einem nächsten Schritt könne man Trump mit einer großen Geste zu einem europäisch-amerikanischen Gipfel einladen, den Italiens Ministerpräsidentin Georgia Meloni fordert. „Wenn man die Personen, die Personalentwicklung in der amerikanischen Administration sieht und auch die Persönlichkeit von Trump dazu nimmt, dann ist ein Gipfel mit ihm, an dem er ganz groß am Tisch sitzt, immer ein guter Rat“, so Fischer. Der Kniff dabei: Trump könnte seinen Wählern verkaufen, er habe die Europäer dazu gebracht, sich endlich Pläne für ihre eigene Sicherheit zu machen und einen gerechten Beitrag zu leisten. Es wäre ein Deal ganz nach seinem Geschmack.

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