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Chilenische Kartoffelsorten als Grundlage für moderne Zucht – Wissen | ABC-Z

Yolanda Millapichún hütet eine Schatzkammer. Die 63-jährige Chilenin ist eine sogenannte Samenwächterin. Im Herbst erntet sie auf einem kleinen Acker auf der Insel Lemuy – einer Insel des Archipels Chiloé im Süden Chiles – Kartoffeln. Sie zieht die Pflanzen aus dem Boden, lockert die Erde an dieser Stelle vorsichtig mit einer Hacke und holt die Knollen heraus. Mit der weißen, marktüblichen Kartoffel haben diese jedoch nichts zu tun.

Die chilenischen Kartoffelsorten haben viele Formen und Farben. (Foto: Judith Mintrop)

Zum Vorschein kommen stattdessen rötliche, bläuliche und lilafarbene Knollen mit unterschiedlichen Größen und Formen. Manche klein und rund, andere lang und dünn und wieder andere u-förmig.

„Mein Kartoffelgarten hat den Namen Rayenmilla. Das ist Mapudungun – die Sprache der Indigenen – und heißt übersetzt Blüte aus Gold.“ Seit 13 Jahren pflanzt und erntet Millapichún Jahr für Jahr 112 verschiedene Kartoffelsorten. Sie bekommt dafür kein Geld, sie möchte dazu beitragen, die Vielfalt zu bewahren.

Alle 112 Sorten stammen ursprünglich von der Insel Chiloé. Zwar gilt Peru als Ursprungsland der domestizierten Kartoffel. Funde im Süden Chiles zeigen aber, dass es schon vor rund 14 600 Jahren Wildkartoffeln in der Gegend gegeben haben muss. Professor Julio Kalazich, Agraringenieur an der chilenischen Universität Los Lagos in Osorno, hat keinen Zweifel daran, dass die ersten gezüchteten Kartoffelknollen aus Peru stammen, doch die heute wirtschaftlich relevanten Sorten haben ihren genetischen Ursprung in Chile.

Bunte Kartoffelsorten spielen auf dem Weltmarkt bislang nur eine winzige Rolle

Der Grund dafür ist die Herkunft der Knollen: In den peruanischen Anden sind die Tage aufgrund der Nähe zum Äquator konstant kurz, die Kartoffeln wachsen dort über das ganze Jahr hindurch. Als die Knollen im 17. Jahrhundert nach Europa gebracht wurden, konnten sie sich dort nur im Spätherbst entwickeln. Die aus Peru stammenden Kartoffeln in Europa anzubauen, war deshalb unrentabel und unattraktiv. „Die peruanischen Kartoffeln produzieren keine Knollen an langen Tagen, oder nur spärlich und sehr spät“, sagt Kalazich. „Die Kartoffel-Sorten auf Chiloé dagegen bilden normal große Knollen, weil sich die Kartoffel an die langen Tage mit vielen Sonnenstunden angepasst hat.“

Professor Julio Kalazich: „Perfekte Sorten für den Massenkonsum“. (Foto: Judith Mintrop)

Die Erfolgsgeschichte der Kartoffel in Europa begann erst mit dem Import chilenischer Sorten. Diese Kartoffeln brachten ausreichend Ertrag. Heute stammen deshalb – laut einer Studie des verstorbenen chilenischen Agraringenieurs Andrés Contreras – rund 90 Prozent der weltweit produzierten Kartoffeln genetisch aus Chile.

Julio Kalazich ist am Erntetag ebenfalls auf dem Kartoffelacker von Yolanda Millapichún. Zusammen mit einigen Studenten wuselt er über das Kartoffelfeld und sammelt Proben. Sie graben die verschiedenen Kartoffelsorten aus, tüten jeweils eine Knolle ein und füllen bei jeder Sorte etwas Erde in kleine Reagenzgläschen. „Was wir hier haben, ist ein Schatz für die Menschheit.“ Künftige Generationen würden von der Arbeit der Kleinbauern wie Yolanda Millapichún profitieren. „Aufgrund des Klimawandels und der sich ändernden Wetterverhältnisse werden wir künftig viele verschiedene Gene brauchen, um die perfekten Sorten für den Massenkonsum kreieren zu können.“

In rund 160 Ländern wird das Nachtschattengewächs angebaut. Laut der Welternährungsorganisation (FAO) belegt die Kartoffel mit einer weltweiten Produktion von 374 Millionen Tonnen den dritten Platz der am häufigsten produzierten Nahrungspflanzen. Dabei spielen die bunten Kartoffelsorten aus den südamerikanischen Ländern nur eine geringe Rolle. Am meisten verbreitet sind die weißen oder gelblichen großen Knollen, die zu Hochleistung gezüchtet wurden.

Trotzdem ist die Arbeit von sogenannten Samenwächtern oder Kleinbauern wie Yolanda Millapichún von unschätzbarem Wert. Denn es mag nach romantischer, kleinbäuerlicher Gutmütigkeit klingen, wenn Yolanda Millapichún erzählt, dass sie jedes Jahr drei Knollen aller 112 Sorten pflanzt, um sie einige Monate später zu ernten und in kleinen Säckchen wieder einzulagern. In Wirklichkeit könnten Kartoffelzüchter weltweit davon profitieren. „Vor vielen Jahren war man der Meinung, dass die Züchtung diese Arbeit überflüssig machen würde“, sagt Dirk Prüfer vom Institut für Biologie und Biotechnologie der Pflanzen der Universität Münster. „Aber heute kann man sehen, dass in diesem Zucht-Selektions-Prozess unwahrscheinlich viele Merkmale verloren gegangen sind, vor allem Resistenzgene gegen Viren, Pilze und Bakterien.“

In den Ursprungssorten und Landrassen dagegen sind viele dieser Eigenschaften noch enthalten. Genetische Analysen können gezielt die dafür verantwortlichen Erbanlagen aufspüren und so geeignete Kreuzungspartner erkennen, um die begehrte Eigenschaft in herkömmliche Zuchtlinien hineinzubringen. Im Gegensatz zum herkömmlichen Kreuzungsprozess, bei dem das Erscheinungsbild der Pflanze ausschlaggebend ist, wird bei dieser Methode das Erbgut zur Auswahl herangezogen. Im Labor können so die geeigneten Elternpflanzen ausgewählt und bereits kurze Zeit nach der Kreuzung die jungen Keimlinge mit den gewünschten Merkmalen erkannt werden. Fachleute nennen dieses Vorgehen auch Präzisionszucht oder „Smart Breeding“.

Die alten Sorten enthalten bunte Pflanzenfarbstoffe. (Foto: Judith Mintrop)

Ein für die Zucht zukünftig vielleicht interessantes Merkmal ist die Farbe der Knollen. Die bunten Knollen aus Südamerika enthalten größere Mengen sogenannter Anthocyane. Das sind sekundäre Pflanzenstoffe, von den Pflanzen ursprünglich gebildet, um Insekten und andere Tiere anzulocken und um sich vor der schädlichen Wirkung der UV-Strahlen zu schützen. Im menschlichen Organismus können diese Stoffe gesundheitsfördernde Wirkung entfalten, etwa indem sie biochemischen Stress in den Zellen mindern und so Entzündungen vorbeugen. Die Kartoffeln, die Yolanda Millapichún pflanzt und erntet, sind also nicht nur schön anzusehen, sondern könnten vielleicht sogar helfen, Krankheiten vorzubeugen. Dirk Prüfer ist es wichtig zu betonen, dass man aber nicht generell sagen könne, wer blaue oder violettfarbene Kartoffeln esse, habe keine Probleme mehr mit Krebs oder Entzündungen. „Das wäre der falsche Ansatz.“ Aber es sei eine Substanz mehr in der Knolle drin, die auch gesundheitsfördernd wirken könnte.

Die Samenwächterin ist stolz auf ihre Arbeit

So gibt es viele Gründe, die genetische Vielfalt zu bewahren – auch zu diesem Zweck wurden Samenbanken erschaffen wie jene an der Universität Austral de Chile in Valdivia. In Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie (IME) und dem Fraunhofer-Institut Chile suchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Beständen nach Sorten mit einem hohen Anthocyan-Anteil. 290 der in der Kartoffelgenbank in Chile aufbewahrten Sorten wurden bislang auf genetische Marker für einen erhöhten Anthocyan-Gehalt untersucht und einige gefunden, die für die Zucht interessant sind. „Wir haben hier Kartoffelsorten, die den Anthocyan-Gehalt der marktüblichen Kartoffelsorten bis um das Tausendfache übersteigen“, sagt Carolina Lizana, Dekanin der Fakultät für Agrar- und Lebensmittelwissenschaften der Universität Austral de Chile.

Das Argument, dass die Zucht dieser Art von Kartoffeln überflüssig sei, da auch andere Lebensmittel wie Beeren Anthocyane enthalten, lässt Dirk Prüfer nicht gelten: „Den Luxus, gesundheitsfördernde Stoffe wie Antioxidantien über Waldbeeren, Himbeeren oder Blaubeeren aufzunehmen, können sich viele in Europa leisten. Viele Menschen in anderen Ländern kommen über ihre tägliche Nahrungsaufnahme jedoch nicht an diese gesundheitsfördernden Wirkstoffe heran.“ Geht es nach ihm, sollte deshalb möglichst bald damit begonnen werden, die bestehenden Hochleistungskartoffelsorten mit alten Sorten aus Südamerika zu kreuzen. Davon würden viele Menschen weltweit profitieren.

Prüfer und andere Wissenschaftler arbeiten derweil bereits am Folgeprojekt. Darin geht es um Sorten, die zum Beispiel eine möglichst hohe Trockentoleranz haben. Und obwohl diese Arbeit im Labor stattfindet, sei die Arbeit von Yolanda Millapichún und anderen Kleinbauern von enormer Bedeutung für die Zucht, sagt Prüfer. „Sie wissen, welche Kartoffel unter welchen Bedingungen gute Erträge bringt.“ Zum Beispiel welche Kartoffel bei Regen gut wächst oder welche bei Trockenheit. „Das ist unbezahlbar.“

Kartoffelbäuerin Yolanda Millapichún: stolz auf ihre Arbeit. (Foto: Judith Mintrop)

Yolanda Millapichún weiß das. Gerade schließt sie den ersten Erntetag ab. Sie packt – wie jedes Jahr – von jeder Sorte zehn Kartoffeln in ein Netz, die sie in einem kleinen Schuppen aufbewahrt. Im Frühling wird sie wieder drei Knollen jeder Sorte pflanzen. Die Samenwächterin ist stolz auf ihre Arbeit. „Egal wo auf der Welt jemand eine Kartoffel isst, ihr Ursprung findet sich hier in meiner Heimat, auf der Insel Chiloé.“

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