Chemie-Industrie: Und dann lässt Scholz die wochenlange Standort-Kritik der Branche verstummen | ABC-Z
Sinkende Umsätze, drohende Abwanderung: Die Chemie-Unternehmen klagen schon lange über den Industriestandort. Beim Branchengipfel macht der Kanzler nun klar, die Probleme erkannt zu haben – und legt einen Fünf-Punkte-Plan vor. Für eine Aussage bekam Scholz sogar spontanen Beifall.
Das Lächeln von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), mit dem er am Donnerstag den Chemie- und Pharmagipfel in Berlin betrat, stand im Gegensatz zur Stimmung der meisten anwesenden Branchenvertreter. Besonders die Chemiebranche klagt seit Monaten über sinkende Aufträge, rückläufige Umsätze und immer mehr Produktionsdrosselungen in Deutschland.
Entsprechend begierig wartete die Branche auf den Auftritt des Kanzlers und dessen Worten zur Lage. Am Ende des Tages sollte sich Scholz‘ gute Laune auf zahlreiche Branchenvertreter übertragen.
Wie ausgeprägt die Krise der Chemiebranche ist, verdeutlichten einmal mehr die Branchenzahlen zum zweiten Quartal, die der VCI bereits am Dienstag vorgelegt hatte. So ist der Gesamtumsatz der Chemie- und Pharmaindustrie saisonbereinigt gegenüber dem Vorquartal um 0,7 Prozent auf insgesamt 53,8 Milliarden Euro zurückgegangen. Das Vorjahresniveau wurde ebenfalls leicht verfehlt. Die Produktion ist im Vergleich zum Vorquartal zwar um 0,8 Prozent gestiegen. Allerdings sind die Kapazitäten der Branche mit zuletzt 75,1 Prozent weiterhin nicht rentabel ausgelastet.
VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup hat deshalb bereits im Vorfeld des Gipfels gewarnt: „Die Stimmung in unserer Branche hat sich wieder spürbar abgekühlt.“ Er betonte, dass er die strukturellen Probleme am Standort Deutschland „nach wie vor“ als ungelöst ansehe. „Inzwischen erwägen vier von zehn Industrieunternehmen, die Produktion weiter zu drosseln oder gar ins Ausland abzuwandern“, so Entrup im Vorfeld des Gipfels. Damit hatte er auch klargemacht, wie händeringend die Branche auf Initiativen der Bundesregierung wartet.
Auf der Bühne des Chemie- und Pharmagipfels machte Bundeskanzler Scholz rasch klar, die Sorgen der Branche erkannt zu haben. „Deutschland ist ein zentraler Standort für die Chemieindustrie in der Welt. Und ich will, dass das so bleibt“, sagte Scholz. „Chemie ist der Anfang von allem. Ohne Chemie gibt es kein Leben und keine Industrie“, so Scholz weiter. Dabei beließ es Scholz nicht bei blumigen Worten. Auf der Bühne präsentierte er einen ganzen Rucksack an Maßnahmen speziell für die chemische Industrie.
Ein Fünf-Punkte-Plan
Konkret stellte er einen Fünf-Punkte-Plan vor, mit dem den gebeutelten Unternehmen geholfen werden soll. Ganz oben auf Scholz‘ Agenda ist dabei ein Punkt, der die Chemiebranche gerade intensiv bewegt: Das auf EU-Ebene drohende Verbot von per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS), besser bekannt als Ewigkeitschemikalien.
„Wir lehnen ein Totalverbot von PFAS ab“, sagte Scholz und erntete damit spontanen Applaus. Zwar sollten jene PFAS-Verbindungen, für die es Alternativen gibt, verboten werden. „Dort, wo es noch keine Alternativen gibt und ihr Nutzen aber überwiegt, muss ihr Einsatz möglich bleiben – bei Medizinprodukten etwa, bei Halbleitern oder Elektrolyseuren“, so Scholz, „wir setzen uns für eine praktikable Lösung für Sie ein.“
Zudem versprach Scholz den Branchenvertretern, bürokratische Hürden abzubauen. „Tempo ist entscheidend“, sagte Scholz. Dieses Tempo bräuchte es auch für Innovationen in der Industrie. Zugleich gestand der Bundeskanzler ein, dass etwa Behörden, die für Emissionsgenehmigungen zuständig sind, überfordert seien. Er betonte, dass durch das Bundesemissionsschutzgesetz diese zeitlichen Hürden geschliffen werden sollen.
Zudem sieht Scholz Fünf-Punkte-Plan eine Konzentration auf Kreislaufwirtschaft und der Förderung von MINT-Berufen in Schulen vor. Auch die Strompreise adressiert Scholz‘ Plan. So betonte der Kanzler, dass die Strompreiskompensation bis 2030 verlängert worden ist.
Zudem würde die Bundesregierung sich dafür einsetzen, dass noch weitere Bereiche der Wirtschaft entlastet werden können. Die Bundesregierung strebe zudem eine „beihilfekonforme Verlängerung“ der Regelungen der Stromnetz-Entgelt-Verordnung an.
Seinen Plan verglich Scholz mit der Pharmastrategie der Bundesregierung. „In der Pharmabranche finden milliardenschwere Investitionen in Deutschland statt. Ich freue mich über die Einladungen zu jedem Spatenstich“, so Scholz.
Der seit Wochen geäußerten Kritik des VCI am Standort Deutschland hat Scholz am Donnerstag den Wind aus den Segeln genommen. VCI-Präsident Markus Steilemann bedankte sich auf der Bühne ausgiebig bei Scholz. „Heute ist nicht der Tag um Forderungen zu stellen“, so Steilemann.
CDU-Chef Friedrich Merz ging in seiner Rede auf dem Chemie- und Pharmagipfel nicht direkt auf Scholz‘ Fünf-Punkte-Plan ein. Stattdessen übte er in seiner Rede generelle Kritik an den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland. „Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist dysfunktional geworden“, sagte Merz und verwies auf den Fachkräftemangel und zunehmende Arbeitslosigkeit. Er kritisierte, dass in der Vergangenheit aus „gut bezahlten Jobs in der Industrie weniger gut bezahlte Jobs im Dienstleistungsbereich geworden sind“.
Zudem kritisierte Merz die überbordende Bürokratie am Standort Deutschland, die durch „kleine Schräubchen“ nicht zurückgedreht werden könne. In puncto Stromversorgung sprach sich Merz für eine verstärkte Kooperation aus. „Wir müssen Energiepartnerschaften mit Nachbarländern eingehen“, so Merz. Den Ausstieg aus der Kernenergie bezeichnete der CDU-Chef als irreversibel. Allerdings könne Deutschland durch solche Partnerschaften laut Merz den Bau von Akws im Ausland unterstützen.
Andreas Macho ist WELT-Wirtschaftsreporter in Berlin mit den Schwerpunkten Gesundheit und Bauwirtschaft.