Chaotisches Bauprojekt: Späte Genugtuung für die „Wutbürger“ bei Stuttgart 21 | ABC-Z
Stuttgarts neuer Bahnhof kostet mehr als elf Milliarden Euro und schafft immer neue Probleme. Dass Politik und Bahn daran festhielten, rächt sich heute. Das Chaos um Stuttgart 21 ist ein Lehrstück darüber, warum fachkundige Kritiker nicht diskreditiert werden sollten.
Seit Boris Palmer im Streit über das Tiefbahnhofprojekt Stuttgart 21 (S21) eine aktive Rolle spielte, sind fast anderthalb Jahrzehnte vergangen. Der Tübinger Oberbürgermeister war 2010 Gesicht und eloquente Stimme der S21-Gegner, als der mittlerweile verstorbene Heiner Geißler die legendäre Schlichtung mit der Deutschen Bahn AG moderierte.
Doch für den ehemaligen Grünen-Politiker Palmer, der seine Partei 2023 im Streit verließ, sind die Auseinandersetzungen um das Projekt immer noch aktuell. Auch weil ihn gegenwärtige Debatten, insbesondere über die Migration, lebhaft an die Art und Weise erinnern, wie seinerzeit mit Kritikern umgegangen wurde: „Wieder werden diejenigen, die ohne ideologischen Eifer auf objektive Probleme hinweisen, sofort unter Verdacht gestellt.“
Dass die Bahn an dem Bauprojekt gegen alle Widerstände festgehalten hat, rächt sich heute und macht Stuttgart 21 zum mahnenden Beispiel dafür, wie riskant es ist, Einwänden zu wenig Gehör zu schenken. „Mit dem Wissen von heute“, gab Bahn-Chef Richard Lutz bereits 2018 kleinlaut vor dem Verkehrsausschuss des Bundestags zu, würde der Konzern das Bauprojekt keinesfalls mehr angehen.
Dabei lag dieses Wissen früh auf dem Tisch: Schon 2007 protestierten 67.000 Baden-Württemberger per Unterschrift gegen das drohende Milliardengrab. Im selben Jahr entstand das Aktionsbündnis gegen Stuttgart21. Es organisierte Demos und Infostände, sammelte Fakten, formulierte Petitionen, gab Gutachten in Auftrag. Und der damals frisch gewählte grüne Ministerpräsident des Landes, Winfried Kretschmann, bezeichnete S21 kurz vor der Volksabstimmung im November 2011 als „verkehrstechnisches Nadelöhr der Zukunft“, dessen Kosten-Nutzen-Verhältnis „völlig aus dem Ruder gelaufen“ sei.
Die Bahnhofsgegner hätten seinerzeit nur ausgesprochen, was auch der DB bei der Planung klar gewesen sei, glaubt Palmer: „Dass Stuttgart 21 die Kapazität des Bahnknotens verringern und bei einer wirklich bedarfsgerechten Ausgestaltung unbezahlbar würde.“ Trotzdem habe man Protestgruppen und besorgte Bürger ähnlich diskreditiert wie heute diejenigen, die Probleme einer ungeregelten Einwanderung thematisieren: „Die S21-Kritiker wurden von Politik und manchen Medien als Fortschrittsfeinde und Bahnhofsnostalgiker, Nörgler, Baumbesetzer und Juchtenkäferschützer abqualifiziert.“ „Wutbürger“ wurde 2010 sogar Wort des Jahres – als Beschreibung des angeblich bräsig-uneinsichtigen Skeptikers, der sich jedem Wandel verweigert.
Zwar habe auch er seinerzeit manche Protestformen der „Wutbürger“ abgelehnt, sagt Palmer. „Aber ohne jene Proteste hätte es die Schlichtung und die dabei erreichten Verbesserungen nicht gegeben.“ Dennoch sind viele düstere Vorhersagen eingetroffen: Der Zeitplan wurde massiv gerissen, derzeit ist der Betriebsstart für Ende 2026 geplant. Die Kosten sind in die Höhe geschossen, von 4,5 auf derzeit 11,4 Milliarden Euro.
Stuttgart ächzt unter einer Riesenbaustelle, die Lärm, Dauerstau und beschwerliche Fußmärsche zu noch betriebenen Bahnsteigen mit sich bringt. Selbst nach fast 15 Jahren Bauzeit ist einer der nötigen Tunnel weder genehmigt noch finanziert. Unklar ist überdies, ob die Schienenstrecken wirklich umfassend die digitale Leittechnik, das European Train Control System (ETCS), erhalten. Nur mit dem ETCS können Züge so eng getaktet werden, dass der Milliarden-Bahnhof mit seinen lediglich acht Gleisen ausreichend leistungsfähig wird. Das System ist teuer – und an Geld fehlt es der DB hinten und vorn.
Zu allem Überfluss steht nun auch noch die Zukunft des Rosenstein-Quartiers in den Sternen, eines neuen Stadtviertels mit 5700 Wohnungen auf dem bisherigen Gleisgelände. Eine seit Ende 2023 geltende Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes durch die Ampel-Koalition erschwert nämlich neuerdings die Bebauung ehemaliger Bahngrundstücke massiv.
Die Stadt, die für das Gelände eine halbe Milliarde Euro gezahlt hat, fürchtet nun eine gigantische „Rosensteinbrache“. Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) will sich der Sache annehmen, eine Lösung steht aus.
„Politische Einflussnahme führte zu Stuttgart 21“
Der einstige CDU-Bundestagsabgeordnete Georg Brunnhuber aus Baden-Württemberg, der 2011 Cheflobbyist der DB wurde, hat es einmal so auf den Punkt gebracht: Es gibt Projekte, die durchgerechnet werden – und es gibt politische Projekte.
„Es war politische Einflussnahme auf die Deutsche Bahn, was zu Stuttgart 21 führte“, bestätigt Rudolf Breimeier. Der heute 86-Jährige war bis 1998 bei der DB für die konzeptionelle Gestaltung und Wirtschaftlichkeit großräumiger Infrastrukturprojekte zuständig. Breimeier beschäftigte sich schon 1994 mit einer Neuordnung des Bahnverkehrs im Raum Stuttgart und kam zu dem Schluss, dass ein Tunnelbahnhof der oberirdischen Variante wirtschaftlich unterlegen sei.
Fachleute der Bahn und im Bundesverkehrsministerium, so erzählt Breimeier, hätten früh klar eine Lösung mit der Beibehaltung des Kopfbahnhofs sowie einem bezahlbaren Durchgangsbahnhof in Bad Cannstatt befürwortet, von dem aus ein kurzer Tunnel zur Schnellstrecke in Richtung Ulm geführt hätte. „Hingegen ist mir innerhalb der DB niemand bekannt, der sich damals für jene unterirdische Lösung ausgesprochen hätte.“ Dass diese in den 90er-Jahren dennoch durchgesetzt wurde, habe verschiedene Gründe gehabt, „von denen kein einziger etwas mit nüchternen Kosten-Nutzen-Kalkulationen und Notwendigkeiten des Bahnbetriebs zu tun hatte“.
Ein wichtiger Faktor sei die sogenannte Maultaschen-Connection gewesen, eine schwäbische Vierergruppe, die S21 im Jahr 1994 kurzerhand zum „Jahrhundertprojekt“ ausrief. Beteiligt waren der damalige Bahn-Chef Heinz Dürr, Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel, Ministerpräsident Erwin Teufel und Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann (alle CDU). „Sie hantierten“, so Breimeier, „unter Missachtung eisenbahntechnischer und haushaltspolitischer Grundsätze mit Fantasien von einem neuen Stuttgarter Stadtviertel, warfen den Tiefbahnhof mit der Neubaustrecke zusammen und missbrauchten deren wirtschaftliche Vertretbarkeit als Vehikel für die Durchsetzung des unwirtschaftlichen Tunnelgewirrs.“
Damals sei es auch Mode in der Verkehrspolitik gewesen, die sogenannte Beamtenbahn zu belächeln. Das hätten sich die S21-Befürworter zunutze gemacht, erinnert sich Breimeier. „Die versierten Fachleute der einstigen Bundesbahn und auch der DDR-Reichsbahn wurden in fast der ganzen Öffentlichkeit als unbeweglich und ideenlos diskreditiert, sodass es geradezu geboten schien, deren Einwände gegen S21 beiseite zu wischen.“
Herausgekommen sei eine „Absurdität“: „Diejenigen, die gegen die verachtete ‚Beamtenbahn‘ ein angeblich unternehmerisches Denken nach Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten etablieren wollten, setzten gegen die kühlen, wirtschaftlichen Kalkulationen der Beamten das unwirtschaftlichste Projekt der neueren deutschen Eisenbahngeschichte durch.“
Politikredakteurin Hannelore Crolly ist bei WELT zuständig für landespolitische Themen, vor allem in Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg.
Politikredakteur Matthias Kamann ist bei WELT zuständig für Agrarpolitik, kirchliche und gesellschaftspolitische Themen sowie Verkehr.