Champions League: Rudi Völler spricht über den umstrittenen Titel mit Olympique Marseille | ABC-Z
Vor 32 Jahren gewinnt Rudi Völler mit Olympique Marseille die Champions League. Es ist bis heute der einzige Titel einer französischen Mannschaft in der Königsklasse. Doch über dem Triumph liegt ein dunkler Schatten.
Im Flugzeug hatte der Henkelpott anscheinend einen festen Platz – an der Seite von Rudi Völler. Fotos zeigen ihn mal mit seiner Frau, mal mit den Mannschaftskollegen und immer mit Pokal. Entstanden sind die Bilder am 27. Mai 1993 auf dem Rückflug vom Final-Spielort München nach Marseille. Mit Olympique hatte Völler am Vorabend die AC Mailand 1:0 im ersten Endspiel der neuen Champions League als Nachfolger des Landesmeister-Cups geschlagen.
Für den heutigen Sportdirektor der Nationalmannschaft beginnt die Zeitreise beim Termin für die neue SPORT BILD-Serie mit dem ersten Blick auf den Tisch. Dort liegt die Aufstellung des Endspiels von 1993.
Frage: Was denken Sie, wenn Sie die Namen sehen?
Rudi Völler: Milan war eigentlich unschlagbar. Wenn ich die Abwehr sehe – Tassotti, Costacurta, Baresi, Maldini. Puh! Aber wir hatten auch eine richtig gute Mannschaft. Ich war mit 33 Jahren der Älteste. Barthez, Desailly, Boksic, deren Karrieren gingen da gerade erst richtig los. Sie waren noch ganz jung. Die drei und ich waren im Sommer 1992 gekommen. Hinten waren Angloma und Boli gesetzt. Desailly kannte ich vorher nicht. Nach zwei, drei Tagen im Training dachte ich: Was für eine Rakete – der bringt alles mit. Im Mittelfeld Deschamps, unser Kämpfer, daneben Sauzée, der Zauberer. Vorne Abédi Pelé, Boksic und ich. Das war eine Topmannschaft auf allerhöchstem Niveau. Für das Finale hatte sich unser Trainer Raymond Goethals noch eine Besonderheit einfallen lassen.
Völler: Wir haben gespielt wie immer. Nur im Sturm nicht. Während der kompletten Saison war ich der Mittelstürmer. Boksic, der extrem laufstark war, kam mal über rechts, mal über links. Das hat super funktioniert. Abédi Pelé spielte etwas hinter uns. Im Finale spielte Boksic zentral. Er sollte die Innenverteidiger Baresi und Costacurta anlaufen. Pelé spielte rechts, mit Tempo auf Maldini. Ich sollte links Druck auf Tassotti machen.
Frage: Das ging auf.
Völler: Ob wir deshalb gewonnen haben, weiß ich nicht. Es ging gut los für uns. Ich hatte eine echte Chance, habe sie vergeben. Milan hatte zwei, drei Möglichkeiten, hätte führen können. Aus dem Nichts bekamen wir kurz vor der Pause eine Ecke von der rechten Seite. Kopfball Boli, 1:0. Für Milan war das ein Schock. Sie haben zur Halbzeit in dieser Saison praktisch nie zurückgelegen.
Frage: Wie euphorisch war es in der Olympique-Kabine?
Völler: Natürlich hatten wir vor dem Spiel an unseren Sieg geglaubt. Wir waren gekommen, um den Pott zu holen. Aber Milan war der Favorit. In der Pause haben wir uns geschworen: „Heute bekommen wir kein Gegentor. Heute nicht.“ Das haben wir geschafft.
Frage: Dafür werden Sie bis heute in Marseille verehrt.
Völler: Anders als in Italien, Spanien und Deutschland hat nur ein französischer Klub die Champions League gewonnen – einmal: Olympique Marseille. Das ist bis heute etwas Besonderes. Wenn ich nach Marseille komme, werde ich sofort darauf angesprochen. Die Leute sind stolz. Und für mich war es der größte Erfolg mit einem Verein, obwohl ich meine beste Zeit bei Werder Bremen und AS Rom hatte.
Frage: Waren Sie mit dem Ziel Champions-League-Sieg 1992 von der AS Roma nach Marseille gegangen?
Völler: Das kann man sagen, ja. Marseille gehörte damals zur europäischen Spitze. Olympique war 1991 schon im Finale des Landesmeister-Cups, verlor im Elfmeterschießen gegen Roter Stern Belgrad (3:5; Anm. d. Red.). Ich war im Herbst meiner Karriere. Olympique hatte schon in den Jahren zuvor Interesse. 1992 war der Zeitpunkt gekommen.
Frage: Warum?
Völler: Das letzte meiner fünf Jahre in Rom lief nicht ganz so gut, obwohl ich Kapitän war. Mein Vertrag ging noch ein Jahr. Niemand hat gesagt, dass ich gehen soll. Aber es wurde Claudio Caniggia von Atalanta Bergamo geholt. Damit hatten wir vier Ausländer, nur drei hätten damals spielen dürfen. In dem Moment hatte sich Marseille wieder gemeldet, weil Jean-Pierre Papin zur AC Mailand gewechselt war. Es hat einfach gepasst. Ich musste nicht einmal meine Frau überreden, obwohl sie Römerin ist. Sie sagte: „Komm, lass uns das machen!“
Frage: Sportlich haben Sie sich nicht verschlechtert.
Völler: Marseille war damals viermal in Folge französischer Meister geworden. Präsident Bernard Tapie wollte unbedingt den Henkelpott. In den Gesprächen wurde mir klar gesagt: „Wir wollen die Champions League gewinnen.“ Das war für mich ein großer Reiz. Ich war mit Bremen und Rom häufig Zweiter, aber nie Meister oder Europapokal-Sieger. Im Landesmeister-Cup hatte ich nie gespielt. Die neue Champions League war für mich ein wichtiges Argument bei dem Wechsel. Ich weiß heute noch: Wir hatten uns in Rom im Hotel Excelsior getroffen und haben uns dort geeinigt.
Frage: Haben Sie dort den besten Vertrag Ihrer Karriere geschlossen?
Völler: Mein Vertrag in Rom wäre noch ein Jahr gelaufen. Die italienische Liga war das Maß der Dinge zu dieser Zeit. Für weniger habe ich damals nicht unterschrieben, um nach Frankreich zu gehen. Ich habe ganz sicher ordentliches Geld bekommen, aber das war nicht im Ansatz zu vergleichen mit den Summen heute.
Frage: Wie hoch war die Titelprämie für den Sieg in der Champions League?
Völler: Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Die Prämie war zweitrangig. Es ging darum, diesen Pokal zu gewinnen. Ich weiß noch, wie erleichtert wir waren, als wir das Finale erreicht hatten, nachdem wir uns in der Zwischenrunde als Gruppenerster gegen die Glasgow Rangers durchgesetzt hatten.
Frage: War Ihr Weltmeister-Teamchef von 1990, der Anfang 2024 verstorbene Franz Beckenbauer, in den Transfer involviert? Er war nach dem WM-Titel Trainer von Olympique.
Völler: Natürlich habe ich Franz gefragt, als das Angebot kam. Er selbst hatte sich als Trainer dort nicht so wohl gefühlt. Tapie war ein Präsident alter Schule. Der kam einfach mal während der Besprechung in die Kabine. Das hat Franz nicht gefallen. Er ist schon nach einigen Monaten gegangen. Mir hat er trotzdem zu dem Wechsel geraten. Er sagte, dass es ein Top-Verein ist. So war es auch. Die Fans waren einmalig. Das Stadion war immer voll und die Stimmung überragend. Da gab es vor jedem Spiel ein Feuerwerk. Und wenn wir gewonnen hatten danach noch einmal – also eigentlich nach jedem Spiel (lacht). Das hat schon Spaß gemacht.
Frage: Finale in München. 26. Mai 1993. Welche Erinnerungen haben Sie?
Völler: Als Erstes denke ich daran, dass unser damaliger Manager Jean-Pierre Bernès zu mir kam, nachdem wir im April ins Endspiel eingezogen waren und fragte: „Rüdi (er spricht seinen Namen bewusst mit französischem Akzent), wohin gehen wir in München? Welches Hotel ist das richtige?“ Ich habe ihm gesagt, dass wir mit der Nationalmannschaft u. a. während der EM 1988 etwas außerhalb waren, im Hotel Bachmair am Tegernsee. Das habe ich vorgeschlagen, weil wir unser Ligaspiel zuvor in Valenciennes (1:0) vorziehen und vier oder fünf Tage vor dem Finale in München anreisen konnten. Das Endspiel war noch nicht der Abschluss der Saison und fand am Mittwochabend statt, nicht am Samstagabend. Ich hatte nur gute Erfahrungen im Hotel Bachmair gemacht. Aber ich wusste: Wenn es schiefgeht und wir verlieren, werden sich alle bei mir beschweren: „Der Völler hat das falsche Hotel vorgeschlagen.“ (lacht)
Frage: Was haben Sie fünf Tage lang dort gemacht?
Völler: Es gab einen guten Trainingsplatz und der Verein hat für ein gutes Programm gesorgt. Es kamen immer wieder Gäste zu uns ins Hotel. Einmal war zum Beispiel Chris Waddle da, der das Finale 1991 mit Marseille verloren hatte. Daran erinnere ich mich, weil es ein lustiger Abend war.
Frage: Wurden Sie nach dem Sieg für die Hotel-Auswahl gefeiert?
Völler: Einige haben mir auf die Schulter geklopft und gesagt: „Rüdi, Rüdi, super Hotel.“ Da haben wir auch in der Nacht nach dem Sieg richtig gefeiert. Am Morgen waren wir live im französischen Fernsehen, sind zurückgeflogen und anschließend sensationell empfangen worden in Marseille. Die Straßen waren voll mit Menschen. Wahnsinn. Im Stadion warteten über 50 000 Fans. Jeder von uns hat seine Runden mit dem Pokal gedreht. Und am Wochenende hatten wir zu Hause das Topspiel um die Meisterschaft gegen Paris Saint-Germain. Trainiert haben wir nicht mehr. Vor dem Spiel sind wir mit dem Pott auf den Rasen gelaufen – und haben 3:1 gewonnen. Ich habe ein Tor geschossen. Das waren schöne Tage.
Frage: Aber es stellte sich heraus, dass Tapie das Spiel zuvor gegen Valenciennes gekauft hatte. Marseille wurde die Meisterschaft aberkannt und in der Saison 1993/94 von der Champions League ausgeschlossen. 1994 musste der Verein zwangsabsteigen.
Völler: Das war chaotisch. Hätte ich im Sommer 1993 gewusst, was in den nächsten Wochen passieren würde, wäre ich wahrscheinlich gegangen. So habe ich meinen Vertrag bis 1994 erfüllt und bin dann nach Leverkusen gekommen. Marseille musste in die zweite Liga, die Mannschaft ist zerfallen. Tapie musste ins Gefängnis, Spieler wurden verhört. Nach dem Wiederaufstieg wurde aus Olympique nie mehr der Top-Verein, der er mal war. Es gab nur noch eine Meisterschaft: 2010 mit Didier Deschamps als Trainer.
Frage: Die Bestechung war nicht der einzige Skandal in der Saison des Triumphs. 2006 packte Jean-Jacques Eydelie, Ihr Mitspieler der Titel-Mannschaft aus, dass allen Spielern vor dem Finale Injektionen verabreicht worden waren – nur Ihnen nicht. War die Champions-League-Siegerelf gedopt?
Völler: Ich kann mir so etwas nicht vorstellen, das habe ich schon 2006 gesagt. Wir waren einfach eine super Mannschaft.
Frage: Hat der Titelgewinn in der Königsklasse durch die Enthüllungen für Sie persönlich Kratzer erhalten?
Völler: Natürlich nicht. Ich werde immer mal wieder damit konfrontiert, dass ich nie Meister war. Ich sage dann immer mit einem Schmunzeln: „Stimmt, aber dafür habe ich die richtig wichtigen Titel gewonnen. Ich bin Weltmeister und Champions-League-Sieger.“ Einige Spieler haben diese beiden Titel gewonnen, aber so richtig viele gibt es nicht. Ich bin stolz darauf.
Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.