Gewalt gegen Frauen: Wer immer Femizid sagt, macht es sich zu leicht | ABC-Z

Die Reste der Silvesterböller sind kaum von den Straßen gefegt, da gibt es schon die erste tote Frau. In Hamburg, im Stadtteil Groß Borstel, soll ein Mann seine Ehefrau erstochen haben, das gemeinsame dreijährige Kind musste zuschauen. Das war, so könnte man es zynisch ausdrücken, der Auftakt für dieses Jahr, denn dass weitere Frauen von Männern ermordet werden, ist gewiss. 155 Frauen waren es im vorletzten Jahr, die von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wurden, jeden zweiten Tag eine. Manche würden sagen: jeden zweiten Tag ein Femizid.
Doch schon der Begriff selbst, Femizid, ist längst umkämpft. Eigentlich würde man sich gern mit produktiveren Fragen beschäftigen, schließlich geht es um das Überleben von Frauen. Mit Gewaltschutz zum Beispiel, dem Gewalthilfegesetz, mit der Frage, wie geschlechtsspezifische Gewalt auf bundespolitischer Ebene verhandelt wird. Stattdessen aber ging es zuletzt immer mehr um ein Lieblingsthema der Deutschen, die Sprachpolitik, und deshalb um die Frage, ob und wie und wann man den Femizid-Begriff denn nun verwenden sollte.
Zurück also zum Ursprung: 1976 wurde der Begriff Femizid von der Soziologin Diana Russell eingeführt. Seitdem wird er in der Soziologie, Kriminologie und feministischen Theorie verwendet, wenn Frauen aufgrund von „Vorstellungen geschlechtsbezogener Ungleichwertigkeit“ getötet werden. Seit Russells Definition wurde der Begriff durch verschiedene gesellschaftliche, wissenschaftliche und regionale Einflüsse weiterentwickelt, eine einheitliche Definition gibt es nicht. Je nach Auslegung fällt darunter etwa, wenn ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin tötet, wenn ein Mann seine Schwester tötet, weil sie sich seinen Rollenvorstellungen entzieht, oder wenn jemand ein Baby tötet, weil es ein Mädchen ist. Tötet hingegen ein Bankräuber eine Bankangestellte, weil er an das Geld kommen will, dann ist das ein Mord aus Habgier und kein Femizid.
Die politische Agenda von Begriffen
Entscheidend ist also die Motivlage, und das macht es schon mal kompliziert, denn die Kategorie „geschlechtsspezifisch“ ist vage genug, um Auslegungssache zu bleiben. Greift sie nur dann, wenn ein Täter ein frauenfeindliches Bekennerschreiben bei sich trägt, wie der Incel-Messerstecher in Toronto 2020? Oder wenn ein Attentäter gezielt Jagd auf Frauen macht, wie es im April 2024 in Sydney der Fall war? Wie steht es um den Arzt Fähner aus Ferdinand von Schirachs gleichnamiger Kurzgeschichte, der seine Frau Ingrid ermordet, um sich aus der bedrückenden Ehe zu befreien? Ist eine Frau, die im Prostitutionsgewerbe arbeitet und dort getötet wird, Opfer eines Femizids, weil ihre Arbeitsbedingungen strukturell frauenverachtend sind? So gesehen, merken Kritiker an, ist die richtige Verwendung des Wortes Femizid immer eine Frage der Argumentation.
Was man den Kritikern ebenfalls vorwegnehmen kann: Wer dem Femizid-Begriff eine politische Agenda unterstellt, hat damit recht. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Häusliche Gewalt“ schreibt in einem Ergebnisbericht von 2023, sie empfehle „nachdrücklich eine Implementierung des Begriffs Femizid im deutschen Sprachraum“, um eine Verharmlosung geschlechtsspezifischer Gewalt zu verhindern.
Das ist legitim, immerhin sind die Sozialwissenschaften ständig damit beschäftigt, neue Begriffe einzuführen, um damit Sichtbarkeit und Bewusstsein für Phänomene zu schaffen. So wie die Vokabel epistemische Gewalt aufzeigt, wie bestimmte Perspektiven systematisch ausgeschlossen oder entwertet werden oder das Greenwashing für krude Marketingstrategien steht, will der Femizid die höchste Eskalationsstufe von Gewalt gegen Frauen aufzeigen, die Tötung von Frauen aus geschlechtsspezifischen Motiven.
Dafür ist es allerdings wichtig zu wissen, wofür ein Begriff genau gilt, und das scheint selbst auf bundespolitischer Ebene nicht klar zu sein. Ende November stellten Innenministerin Nancy Faeser und Familienministerin Lisa Paus den ersten Lagebericht „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten“ des Bundeskriminalamts vor. 360 Femizide soll es 2023 in Deutschland gegeben haben. Die dazugehörige Pressemitteilung titelte „Fast jeden Tag ein Femizid“. Nur wer den Bericht tatsächlich liest, erfährt, woher das BKA die Zahl nimmt. „Da für Femizide bislang keine einheitliche Definition existiert“, heißt es da, „wird im Lagebericht die Gesamtzahl der weiblichen Opfer von Tötungsdelikte angegeben.“ 2023 wurden also 360 Frauen insgesamt getötet. Aus welchem Motiv, ob es im engeren Sinne um Femizide ging, wissen wir nicht.