Cem Özdemir: „Nicht nur kommende Regierung muss sich diesen Aufgaben stellen – sondern alle Deutschen“ | ABC-Z

Noch-Agrarminister Özdemir (Grüne) sieht eine breite Akzeptanz für den Klimaschutz in Unternehmen. Er ruft die neue Regierung auf, bei der Verwendung des Schuldenvermögens Wirtschaft und Ökologie zusammenzudenken. Und richtet einen Appell an die ganze Bevölkerung.
Derzeit ist Grünen-Politiker Cem Özdemir noch geschäftsführender Doppelminister. Seit Beginn der Ampel-Koalition im Dezember 2021 führt er das Landwirtschaftsministerium. Nach dem Bruch der Koalition im November 2024 kam auch noch das Ministerium für Bildung und Forschung hinzu. Der 59-Jährige will bei der Landtagswahl 2026 in Baden-Württemberg als Spitzenkandidat antreten.
WELT AM SONNTAG: Herr Özdemir, Ihre Amtszeit und die der Ampel-Regierung ist wohl anders, als Sie gedacht haben, zu Ende gegangen. In Ihrer Zeit als Landwirtschaftsminister: Was verbuchen Sie als Ihre größte Leistung?
Cem Özdemir: Die Legislaturperiode hat anders angefangen, als geplant: Gleich zu Beginn hat Putin die gesamte Ukraine völkerrechtswidrig und brutal angegriffen und damit den Krieg, der bereits mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 begonnen hat, weiter drastisch eskaliert. Die direkten Folgen davon tragen zuallererst die mutigen Menschen in der Ukraine, die Auswirkungen sind zudem im restlichen Europa und der ganzen Welt zu spüren. Putin wollte die Ukraine als eine der wichtigsten Kornkammern der Welt vom globalen Markt abschneiden und so für Destabilisierung der Wirtschaft sorgen. Das wollten wir nicht zulassen, und ich habe sofort den Draht zu meinem ukrainischen Kollegen gesucht und genutzt.
Als Lager bombardiert wurden, haben wir mobile Silos geliefert. Als der Getreidekorridor übers Schwarze Meer blockiert wurde, haben wir alternative Exportwege über den Donauhafen von Ismajil unterstützt. Immer mit dem Ziel, dass das ukrainische Getreide dorthin kommt, wo es am dringendsten benötigt wird. Heute hat die Ukraine ihre Exportkapazitäten nahezu vollständig zurückgewonnen – trotz Bomben und Blockaden. Das ist eine enorme Leistung der Ukrainer – und es ist auch ein Erfolg gezielter internationaler Unterstützung, zu der wir konkret beigetragen haben. Ganz besonders stolz bin ich in diesem Zusammenhang auch darauf, dass mein Haus – zusammen mit der entschlossenen deutschen Ernährungswirtschaft – kurzfristig die „German Food Bridge“ einrichten konnten. Viele Unternehmen haben tatkräftig gespendet, diese Kooperation hat Mut gemacht.
WAMS: Und im Inneren?
Özdemir: Während der Bauernproteste habe ich meine Aufgabe vor allem darin gesehen, meinen Beitrag dazu zu leisten, das Land in der Mitte zusammenzuhalten. Ich habe mich den Protesten gestellt und bin zu den Kundgebungen gegangen, die für ein Mitglied der Bundesregierung nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig waren. Aber genau dort gehört Politik hin, wenn sie ernst genommen werden will.
Gleichzeitig habe ich am Kabinettstisch dafür gekämpft, dass die berechtigten Anliegen der Landwirte gehört wurden. Ich sage mal in aller schwäbischer Bescheidenheit, ich habe ordentlich dazu beigetragen, dass von zwei Streichungsbeschlüssen anderthalb zurückgenommen worden sind. Die Kfz-Steuerbefreiung wurde entgegen des ersten Beschlusses nicht gestrichen und die Steuervorteile beim Agrardiesel nicht auf einmal abgebaut.
WAMS: Und was ist schiefgelaufen?
Özdemir: Natürlich hätte ich mir noch mehr gewünscht. Zwar haben wir den Waldumbau hin zu klimaresilienten Mischwäldern auf den Weg gebracht und dafür viel Geld mobilisiert – allein 2024 wurde der Waldumbau mit 115 Millionen Euro gefördert. Aber zur Wahrheit gehört, dass ich mir noch einen zeitgemäßen gesetzlichen Rahmen gewünscht hätte, mit dem unsere deutschen Wälder besser gegen Stürme und lange Trockenphasen gewappnet sind. Das ist am harten Nein der FDP gescheitert.
Genauso bei der Gesundheit unserer Kinder: Fast zwei Millionen Kinder leiden an Übergewicht, viele behalten das ihr Leben lang. Das hat dramatische Konsequenzen auf die Lebensqualität, ist aber auch eine Herausforderung für unser Gesundheitswesen. Auch hier hat ein Koalitionspartner komplett zugemacht. In Sachen Ernährung haben wir mit der beschlossenen Ernährungsstrategie der Bundesregierung dennoch etwas Gutes auf den Weg gebracht. Immer mit dem Ziel, den Menschen, ganz besonders Kindern und Jugendlichen, die Wahl für gutes Essen so einfach wie möglich zu machen.
WAMS: Die Steuererleichterungen beim Agrardiesel für Landwirte hatte die Ampel-Koalition abgeschafft, was der Hauptgrund für die Bauernproteste war. Jetzt wollen Union und SPD die Steuererleichterung wieder einführen. Da Sie sich damals gegen jene steuerliche Belastung der Bauern gewandt hatten, werden Sie den Plan der künftigen Koalitionäre doch sicher begrüßen, oder?
Özdemir: Wären die Koalitionsspitzen meinem Rat direkt gefolgt und hätten die weitgehende Rücknahme der Sparbeschlüsse noch vor Weihnachten beschlossen, wäre es nicht zu den breiten Protesten gekommen. Im neuen Jahr kam die Entscheidung zu spät – da war der Protest längst organisiert und der Frust vieler Bauern groß. Bei ihrem Protest ging es meiner Meinung nach nur vordergründig um den Agrardiesel. Das war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Gefüllt wurde das Fass in den eineinhalb Jahrzehnten davor.
Es ging vor allem um das Gefühl, seit Jahren nicht gehört worden zu sein. Zu viel wurde versprochen, viel zu oft haben Kommissionen Papiere erarbeitet, die dann in der Schublade verschwanden. Ich habe angefangen, die Vorschläge zu realisieren. Das dauert, denn oft brauchen Sie Brüssel dazu, mal die Länder, immer die Regierungsmehrheit, mal alle zusammen.
WAMS: Ging es also nur um das Gefühl der Anerkennung?
Özdemir: Das zentrale Thema ist doch die Frage, wie es wirtschaftlich mit den Betrieben weitergeht. Nehmen Sie den Umbau der Tierhaltung: Ich will, dass auch morgen noch gutes Fleisch aus Deutschland auf den Tisch kommt. Für die Schweinehaltung gibt es jetzt Geld für den Stallumbau und erst mal auch für die Unterstützung der laufenden Kosten, wenn Tiere besser gehalten werden. Denn gute Haltung kostet. Den Anfang für die Weiterentwicklung der Tierhaltung haben wir gemacht. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Da musste erst ein Vegetarier aus einer muslimischstämmigen Familie kommen, damit es endlich vorangeht mit der Förderung der zukunftsfesten Schweinehaltung.
WAMS: Mindestens überarbeiten wollen SPD und Union die von Ihnen eingeführte verpflichtende Tierhaltungskennzeichnung für zunächst deutsches Fleisch von Mastschweinen im Einzelhandel. Was halten Sie von diesem Plan der künftigen Koalitionäre?
Özdemir: Verbesserungen sind immer gut und wir hatten selbst bereits weitere Aktualisierungen vorgesehen. Dass manches momentan komplizierter ist als es sein könnte, haben wir vor allem den unionsgeführten Bundesländern zu verdanken. Sie haben Verbesserungen und die Umsetzung des Tierhaltungskennzeichnungsgesetzes blockiert, wo es nur geht. Ganz nach dem Motto: Es ist zwar ein richtiges Anliegen, es darf nicht sein, dass ein grüner Minister das macht, was die CDU immer wollte.
Das ist mir in dem Ressort leider häufiger so gegangen, und geschadet hat die parteitaktische Totalblockade der Union in der Landwirtschaftspolitik vor allem der Planungssicherheit der Höfe. Das war beim Haltungskennzeichen so, das war beim Düngerecht so, bei der Stärkung der Landwirtschaft in der Wertschöpfungskette. Ich hoffe sehr, dass die Union nun schnell wieder auf Regierung umschalten kann, denn die Herausforderungen für die Betriebe und die Umwelt bleiben ja. Die lösen sich nicht einfach in Luft auf, nur weil nun die CSU den Minister stellt.
WAMS: Wäre Ihre Haltungskennzeichnung wirklich mehr gewesen als bloß ein weiteres Label, das die allermeisten Verbraucher in gewohnter Routine ignorieren?
Özdemir: Die staatliche Haltungskennzeichnung ist Ausdruck eines klaren Verbraucherwunsches und ermöglicht, beim Einkauf aktiv mitzuentscheiden. Wer möchte, greift zu Fleisch aus höheren Haltungsformen, wo die Tiere artgerechter gehalten werden oder mehr Frischluft bekommen. Auch die neue Regierung bekennt sich grundsätzlich dazu und das ist eine gute Nachricht für die Tierhaltung in Deutschland. Denn um die geht es. Von 2010 bis 2020 hat sich die Zahl der schweinehaltenden Betriebe in Deutschland fast halbiert. Um das zu stoppen, habe ich mich so reingehängt in die Weiterentwicklung der Tierhaltung.
Im Übrigen trägt die Haltungskennzeichnung auch zum Klimaschutz bei, weil Landwirte einen Anreiz erhalten, weniger Tiere und die besser zu halten. Und damit die Menschen auch noch wissen, woher das Fleisch kommt, habe ich auch die verpflichtende Herkunftskennzeichnung so weit ausgeweitet, wie es im Rahmen des EU-Rechts national möglich ist. Davon profitieren unsere deutschen Erzeuger direkt. Schließlich ist weder dem Landwirt noch dem Tierwohl geholfen, wenn mehr Fleisch aus dem Ausland importiert werden würde.
WAMS: Sie mussten selbst zugeben, dass Sie gar nicht genug Geld für den nötigen Umbau der Ställe zur Verfügung hatten. Insofern können Sie jetzt schlecht kritisieren, dass auch die künftigen Koalitionäre da finanziell wenig zu bieten haben.
Özdemir: Die letzten Jahre in der Opposition und auch im Wahlkampf hat die Union so getan, als könne der Staat jedem alle Wünsche finanzieren und das auch noch ganz ohne neue Schulden. Dieser Zaubertrick ist bekanntermaßen nicht aufgegangen. Man darf außerdem gespannt sein, wie sich der Finanzierungsvorbehalt – sozusagen das Kleingedruckte im neuen Koalitionsvertrag – auch im Landwirtschaftsressort auswirken wird. Versprechen sind viele gemacht worden.
Ich bleibe dabei, Geld für den Umbau der Tierhaltung in Deutschland ist gut angelegtes Geld. Es nützt den Verbrauchern, den Tierhaltern, der Landwirtschaft insgesamt, genauso wie dem ländlichen Raum. Bleiben die Höfe, stärkt das den ländlichen Raum und damit auch den demokratischen Zusammenhalt. Landwirtinnen und Landwirte sind oft in Vereinen organisiert, engagieren sich ehrenamtlich, in der Kirche, im Dorf. Und der Umbau der Tierhaltung stärkt das Tierwohl und den Klimaschutz.
WAMS: Wenn Sie jetzt Bilanz ziehen: Was können Sie Umwelt- und Tierschutzverbänden als echten Erfolg Ihrer Arbeit präsentieren?
Özdemir: Über den Umbau der Tierhaltung haben wir schon gesprochen. Daneben habe ich zum Beispiel mit der Biostrategie dafür gesorgt, dass der ökologische Landbau gestärkt wird. Davon profitieren Verbraucher, regionale Verarbeitung, die Umwelt und durch die Innovationen auch Betriebe, die konventionell wirtschaften. Übrigens will Schwarz-Rot mit dem neuen Koalitionsvertrag auch die begonnene Stärkung des Ökolandbaus fortsetzen.
Mit der Förderung von Agri-Fotovoltaik, also Anlagen, bei denen auf derselben Fläche Energie und Lebensmittel geerntet werden können, haben wir auch sektorübergreifend Fortschritte machen können. Mit Agri-Fotovoltaik lassen sich Flächenkonkurrenzen zwischen Landwirtschaft und dem Energiesektor auflösen. Eine Win-win-Situation. Im Idealfall spart der Landwirt beim Obstbau die Hagelnetze. Die Hochstände der Anlagen tragen darüber hinaus dazu bei, dass in starken Dürrephasen das Wasser im Boden gehalten wird. Auch davon haben dann alle etwas. Das ist Umweltschutz, der mit den Landwirten und nicht gegen sie funktioniert.
WAMS: Sie und mehr noch Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) wollten in größerem Ausmaß ehemalige Moore wieder vernässen, um den enormen Kohlendioxid-Ausstoß trockengelegter Moore zu verringern. Ist es wirklich eine gute Idee, weite Landstriche unter Wasser zu setzen und damit die Weideflächen für Milchkühe drastisch zu reduzieren?
Özdemir: Wenn wir beim Klimaschutz vorankommen wollen, wird daran kein Weg vorbeiführen. Das ist ein perfektes Beispiel dafür, wo Umwelt und Wirtschaft zusammenkommen können. Hier kommt es aber auch auf den richtigen Sound an. Der Spruch ‚Des Ersten Tod, des Zweiten Not, des Dritten Brot‘ beschreibt, welch große Aufgabe und Meisterleistung die Entwässerung von Mooren einst war. Diese Leistung bleibt. Heute wissen wir aber auch, dass dadurch sehr viel CO₂ in die Luft geblasen wird. Dabei können Moore mehr CO₂ speichern als alle Wälder auf der Erde. Hier liegt ein enormer Hebel für den Klimaschutz.
Das geht aber nur miteinander. Es braucht Angebote für die Landwirte, die sich auch wirtschaftlich lohnen. Zum Beispiel die Bewirtschaftung wiedervernässter Moore mit sogenannten Paludikulturen, die als Verpackungs- und Baumaterialien oder als Futtermittel genutzt werden können. Mit der Uni Greifswald haben wir in Deutschland Spitzenforschung auf diesem Gebiet. Mit nassen Mooren Geld verdienen und Klima schützen, das ist doch der Hammer!
WAMS: Die Grünen haben im Rahmen der Neuverschuldung und der Auflagen neuer Sondervermögen 100 Milliarden Euro für den Klimaschutz sichern können. Wie wollen Sie sicherstellen, dass das Geld dementsprechend auch eingesetzt wird?
Özdemir: Absolute Sicherheit gibt es dafür nicht, weil wir nicht in der Bundesregierung sind, sondern in der Opposition. Aber es ist doch klar: Die Herausforderung einer für eine gesündere Umwelt, für Klima, sauberes Wasser, die Notwendigkeit zum Waldumbau, das Artensterben – das sind alles Themen, die bleiben und an denen nicht nur die Grünen Interesse haben. Auch die kommende Bundesregierung muss sich diesen Aufgaben stellen – und nicht nur die, sondern alle Deutschen. Wenn ich beim Mittelstand unterwegs bin, treffe ich keinen einzigen Unternehmer, der mir sagt, wir verabschieden uns vom Klimaschutz oder der Dekarbonisierung und der Mobilitätswende. Sie sagen aber zu Recht: Bitte nehmt uns bürokratischen Fesseln. Die Union trifft auf eine Wirtschaft, die sagt: Wir haben viel Geld für den Klimaschutz in die Hand genommen. Das muss sich jetzt rechnen. Was die Wirtschaft fordert, das ist Planungs- und Investitionssicherheit.
Und jetzt kommen die Grünen ins Spiel. Wir werden eine konstruktive Oppositionsarbeit leisten bei allen Projekten, die nachhaltig sind. Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass die 500 Milliarden Euro jenseits der Schuldenbremse nicht nur für konsumtive Ausgabe dienen, sondern Investitionen sind: für die digitale Infrastruktur, künstliche Intelligenz, für den Erhalt von Brücken, für ein modernes Eisenbahnnetz, das unserer Volkswirtschaft gerecht wird. Und die neuen Schulden eben nicht für Klientelpolitik und bayerische Wahlgeschenke ausgegeben werden. Und gleichzeitig gilt, dass Ausgaben für den Sozialstaat aus dem Haushalt finanziert werden müssen, aber bitte nicht über Schulden. Dass ich das als Grüner mal Christdemokraten sagen muss, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.
Jacques Schuster ist Chefredakteur der WELT AM SONNTAG sowie Chefkommentator.
Dieser Artikel ist im Rahmen der BETTER FUTURE WEEK von WELT erschienen.
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