„Caren Miosga“: „Eine Nazi-Partei ist sie nicht, auch wenn Nazis in der Partei sind“, sagt Joachim Gauck zur AfD | ABC-Z
Nach den Landtagswahlen sieht Altbundespräsident Joachim Gauck den Osten nach immer durch die DDR-Zeit geprägt. Viele AfD-Wähler hätten eine „Sehnsucht nach autoritärer Führung und Unterordnung.“ Gauck appelliert an Vorbilder aus der Gesellschaft, für die liberale Mitte einzutreten und „Erzählungen des Gelingens“ vermitteln.
Drei Landtagswahlen im Osten, dreimal triumphiert die AfD. Auch in Brandenburg konnte die rechtspopulistische Partei am Sonntag besonders viele junge Wähler mobilisieren. Mit 29,2 Prozent der Stimmen wurde sie zweitstärkste Kraft, nur knapp hinter der SPD (30,7 Prozent). Alt-Bundespräsident Joachim Gauck zeigte sich am Wahlabend besorgt. „Zeiten der Verunsicherung sind gute Zeiten für Populisten aller Couleur“, sagte Gauck im ARD-Talk bei Caren Miosga. „Ich bin zutiefst besorgt, dass wir nicht genug Verteidigungsbereitschaft aufbringen gegenüber denen, die so tun, als wäre unsere offene Gesellschaft zuallererst eine Bedrohung.“ Zugleich wolle er Mut machen, und jeder könne Verantwortung für die Demokratie übernehmen.
Im Studio zu Gast waren zudem die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach und der Soziologe Steffen Mau. Reuschenbach machte deutlich: Der Erfolg der AfD bei den jungen Wählern liege auch an der mangelnden Emotionalität und Ansprache der anderen Parteien. „Die anderen Parteien haben die jungen Menschen ein bisschen aus dem Blick verloren.“ Die AfD sei nicht nur in den sozialen Medien stark, sondern habe auch etwa ein Wahlprogramm in „schülergerechter Sprache“ aufgelegt.
Soziologe Steffen Mau sieht die AfD besser bei der Zuspitzung und Emotionalisierung von Themen besonders in den sozialen Medien. Die anderen Parteien hätten wenig Mittel und Strategien, Leute zu erreichen. Außerdem sprach Mau an, dass sich das Parteiensystem in Deutschland wohl dauerhaft verändern werde. Die Parteien würden immer weiter weniger Mitglieder haben, stattdessen müssten andere Formen der Partizipation gefunden und genutzt werden, etwa Bürgerforen, meinte er.
„Das Signal der Entschlossenheit kommt reichlich spät“
Joachim Gauck, Bundespräsident von 2012 bis 2017, selbst ein Mann des Ostens machte die historischen Nachwirkungen der DDR für die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verantwortlich. Die ostdeutsche Gesellschaft sei eine „zutiefst von den 56 Jahren politische Ohnmacht geprägte Gesellschaft.“ Autonomie, Eigenverantwortung und der Wert der eigenen Meinung seien völlig anders gewesen als im Westen. „Die ostdeutsche Teilbevölkerung hat also keinen schlechten Charakter, aber schlechtere Startbedingungen in die Existenz eines Bürgers.“
Scharfe Kritik richtete Gauck an die Bundesregierung. Zwar relativierte er zunächst mit der Feststellung, dass jede Regierung Fehler mache, doch die Ampelkoalition habe, so Gauck, selbst „kräftig“ Erwartungen geschürt, die sie anschließend nicht einlösen konnte. Stattdessen folgten „Phasen von Unentschlossenheit und mangelnder Problemlösung.“ Besonders am Migrationsthema entzündete sich die Kritik des 84-Jährigen: Zwar sei die Regierung mittlerweile „bemüht“, etwa mit den eingerichteten Grenzkontrollen, doch „das Signal der Entschlossenheit kommt reichlich spät“. Gerade die Unklarheit in der Migrationspolitik sei ein Nährboden für Nationalpopulisten.
Beim Thema Migration verwies Gauck auf wissenschaftliche Studien bei Gefahren unkontrollierter Zuwanderung, ohne näher darauf einzugehen. „Die Bevölkerung darf erwarten, dass es Grenzen gibt“, sagte er ab. Und die Politik habe zu spät reagiert. Man habe das Problem nicht sehen wollen, „weil man zu stark auf eine multikulturelle Gesellschaft setzen wollte.“ Von einer Willkommenskultur, wie sie 2015 während des Beginns der Flüchtlingskrise ausgelobt wurde, ist heute keine Rede mehr. Aber „das Land ist noch durchzogen von einem Netzwerk des Guten und der Guten“, meinte Gauck.
„Wenn wir den Menschen zu viel Veränderung in kurzer Zeit zumuten, ist das eine ungute Therapie“
Deutliche Worte fand der Ex-Bundespräsident auch für die AfD selbst. „Eine Nazi-Partei ist sie nicht, auch wenn Nazis in der Partei sind“, stellte er klar. Diese Leute werde man aber nicht los, „da wir aus unserer Gesellschaft das Destruktive nicht verbannen können.“ Die offene, auf Debatten beruhende Gesellschaft mache ihnen Angst, deshalb gebe es den Anschluss an die Nazi-Ideologie. Der Fehler sei aber, sich nur auf die Nazi-Frage zu konzentrieren, so Gauck. Vielmehr müsse man sich mit der „Sehnsucht nach autoritärer Führung und Unterordnung“ auseinandersetzen, die viele AfD-Wähler antreibe. „Die Moderne fordert viel von uns ab. Freiheit ist nicht nur ‚ich fühle mich glücklich‘, sondern ‚ich bin verantwortlich‘. Und das überfordert viele Menschen.“
Gauck forderte dann mehr Vorbilder aus Sport, Kultur und Unternehmen, die den Menschen zeigen sollten, was in der freien Gesellschaft alles Positives errungen wurde und werden kann. „Die das können, sind meist stärkere Sympathieträger, als viele unserer Politiker das sind. Die müssen wir einbeziehen in dieses Werben.“ Statt immer zu klagen, bräuchte Deutschland „mehr Erzählungen vom Gelingen.“ „In Deutschland gilt ja der als besonders intelligent, der besonders nachdrücklich klagen kann und das Elend dieser Welt beschreiben kann. Wenn Sie glücklich und dankbar sind, machen Sie sich verdächtig, geistig minderbemittelt zu sein.“
In einem Schlusswort mahnte Gauck: „Wenn wir den Menschen zu viel Veränderung in kurzer Zeit zumuten, ist das eine ungute Therapie.“ Das Bedürfnis nach „Beheimatung“ sei keineswegs reaktionär, sondern vielmehr ein „Recht auf Lebenssicherheit.“ Zugleich betonte Gauck, dass die Herausforderung darin liege, humane Grundsätze und Rechtsstaatlichkeit zu bewahren und gleichzeitig die „Akzeptanz für die liberale Mitte unserer Gesellschaft“ zu stärken. Die Verteidigung der offenen Gesellschaft erfordere Engagement und Selbstverantwortung: „Ohnmacht wollen wir nicht. Und wir wollen weiter daran glauben, dass Menschen sich ermächtigen können.“