Geopolitik

Cannabis-Legalisierung: Der nächste Joint braucht wieder einen echten Doktor | ABC-Z

Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) will einen Teil der Cannabislegalisierung ihres sozialdemokratischen Amtsvorgängers Karl Lauterbach zurückdrehen. Zwar tastet sie den legalen Eigenanbau und die Cannabis-Clubs vorerst nicht an, als Medikament soll Cannabis aber demnächst nur noch direkt nach einem Arztgespräch erhältlich sein, für das der Interessent eine Arztpraxis aufsuchen muss. Die bei Gelegenheitskiffenden beliebten und bequemen Onlinebestellungen will Warken verbieten, ebenso den Onlineversand von Blüten. 

Warken beklagt, der Medizinialcannabismarkt sei zu stark gewachsen – tatsächlich verdreifachte sich im Jahresvergleich der Verbrauch auf 100 Tonnen. Viele der Bestellungen scheinen zudem nicht medizinisch begründet: Nur einen Bruchteil davon zahlen Krankenkassen, die meisten vermeintlichen Patienten sind Selbstzahler. Importeure und Onlineapotheken machten jedenfalls beste Geschäfte mit Gelegenheitskonsumenten, weil Cannabis seit einem Jahr nicht mehr zu den Betäubungsmitteln gehört und jeder Arzt es verschreiben darf: Seitdem reicht es, in einem Online-Formular ein paar Angaben zu den Beschwerden zu machen, meist wird nach kurzer Prüfung ein Rezept ausgestellt und das Rauschmittel versendet. 

Die großen Cannabis-Plattformen sind in heller Aufregung, seit Warkens Plan bekannt wurde, das Cannabisgesetz zu ändern. Unisono beklagen die führenden deutschen Importeure, Patienten würden dadurch künftig wieder auf dem Schwarzmarkt kaufen – den man ja durch die Legalisierung gerade auszutrocknen gedachte. Denn die illegale Schwarzmarktware ist oft mit besonders gesundheitsschädlichen, wirkungssteigernden Zusatzstoffen versetzt. Von 2.500 von dem Importeur Bloomwell befragten Cannabispatienten gaben 42 Prozent an, sich wieder beim Dealer im Park versorgen zu wollen, statt nach Warkens Willen eine Arztpraxis aufzusuchen. Patrick Hoffmann, Vorstand der Cantourage Group SE warnt, “ein gesetzlich verordnetes Ende der bewährten Zugangswege würde nicht nur Hunderttausende Menschen zurück auf den Schwarzmarkt drängen, sondern auch reale wirtschaftliche Schäden verursachen”. Er prognostiziert sinkende Steuereinnahmen und den Abbau von Jobs. Auch andere Versorger sprechen auf Nachfrage von einer “Rolle rückwärts”, einem “gesundheitspolitischen Rückschritt, der nicht nur medizinisch fragwürdig, sondern auch realitätsfern ist”. Sie warnen vor überfüllten Wartezimmern und mahnen, nicht “aus Sorge vor Missbrauch die Patienten aus dem Blick zu verlieren”. 

Patienten oder Kunden?

Letztlich fürchten die großen deutschen Cannabisimporteure und -produzenten um signifikante Teile ihres explosionsartig gewachsenen Milliardengeschäfts. Im Großen geht es um die Frage: Wie viele der Bezieher von Medizinalcannabis sind tatsächlich Patienten, die ärztlicher Hilfe bedürfen, und wie viele einfach nur zahlende Kunden – Gelegenheitskiffende, die nur kleine Lust auf den beschwerlichen Eigenanbau haben oder auf eine Clubmitgliedschaft?    

Die Branche ist mittlerweile zur Vorwärtsverteidigung übergegangen: Die Firmenchefs beteuern, die von Warken intendierte ärztliche Kontrolle längst implementiert zu haben. Gemeinsam will man erreichen, dass zumindest die Möglichkeit erhalten bleibt, für Cannabisinteressenten Videosprechstunden abzuhalten, statt sie zum persönlichen Arztbesuch zu zwingen. So haben die Cannabislieferanten nicht nur mit den ausliefernden Apotheken, sondern auch mit Medizinern Verträge geschlossen. Aufgabe dieser Ärzte ist, die online übermittelten Angaben der Patienten zu überprüfen und Rückfragen zu stellen, im besten Fall in einem direkten Videointerview. “Bei Canify Clinics steht der persönliche Arztkontakt schon immer an erster Stelle”, sagt Sascha Mielcarek, CEO des Berliner Cannabislieferanten. “Bei uns gibt es daher kein Rezept ohne Arztkontakt.” Tätig seien dabei “in Deutschland approbierte Mediziner”. Die finanzielle Hürde allerdings dürfte Interessenten zur Konkurrenz treiben: Angeboten wird die Videosprechstunde ab 99 Euro. Ähnlich äußert sich die Bloomwell Group, wenn auch weniger konkret: “Im Falle von Bloomwell überprüfen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte jeden einzelnen Fall”, teilt das Frankfurter Unternehmen mit. Eine solche Prüfung kann allerdings auch im Hintergrund erfolgen, also ohne Arzt-Patienten-Kontakt. 

Wie das ablaufen kann, zeigten Tests der ZEIT: Auf diversen Onlineportalen erhält man eine Cannabisverordnung ohne jegliche ärztliche Nachfrage oder gar ärztliches Gespräch. Im jüngsten Fall – einer Bestellung von Canify-Blüten (“Cannabis flos 27/1 CDA Ku. Pink Slurricane”) – versprach das laut Impressum in Dublin ansässige CanDoc eine “Überprüfung durch unseren Arzt”. Bereits sechs Stunden nach Eingabe der gesundheitlichen Beschwerden (“chronische Rückenschmerzen”) genehmigte das Portal das Rezept ohne jegliche Rückfrage. “Nach sorgfältiger Prüfung deiner Angaben haben wir dein Rezept erfolgreich ausgestellt und bereits an die zuvor ausgewählte Apotheke übermittelt”, hieß es in der entsprechenden E-Mail, unterzeichnet von “Dr. Niall Aye-Maung & Kollegen”. Spuren aus diesem Ärzteteam führen in diverse digitale Kanäle, zu Startups und Führungspositionen im Vereinigten Königreich oder in den Niederlanden, etwa zu einem Unternehmen “für Gewichtsmanagement”, das auch Abnehmspritzen verordnet.

Lauterbachs Reform ist steckengeblieben

Die Cannabisbranche kämpft hier auch gegen sich selbst: “Dass vereinzelte auf Cannabis spezialisierte Telemedizinplattformen Rezepte ohne ausreichende ärztliche Prüfung ausstellen, ist unbestritten – und ein Problem, dem Einhalt geboten werden muss”, sagt Finn Hänsel, Geschäftsführer der Berliner Sanity Group. Hänsel sieht diesen Missstand als Folge einer durch Lauterbachs Cannabislegalisierung nicht geschlossenen Bedarfslücke: Gelegenheitskiffende ohne medizinische Indikationen haben bis heute kaum Möglichkeiten, unkompliziert und legal an Gras zu bekommen, um einen Joint zu bauen. Wie viele andere Unternehmenschefs wehrt sich Hänsel dagegen, für die unzureichend prüfenden Anbieter in Mithaftung genommen zu werden. “Der Missbrauch einiger Anbieter darf nicht dazu führen, dass ein ganzes Versorgungssystem geschwächt wird.”

Dass der Medizinalcannabismarkt derart aufgeblüht ist, zeigt letztlich auch, dass die deutsche Legalisierungsreform der vergangenen Regierungskoalition auf halbem Wege steckengeblieben ist. Warkens Vorgänger Lauterbach plante, in ausgewählten Modellregionen Shops für zertifiziertes Cannabis eröffnen zu lassen, scheiterte aber an EU-Recht. Die Schweiz, wo Cannabis illegal ist und der Schwarzmarkt genauso blüht wie bisher in Deutschland, etwa ist da weiter: In den Kantonen Basel und Zürich laufen zu Forschungszwecken von zwei Hochschulen sieben begleitete Pilotversuche, Cannabis an Genusskiffer zu verkaufen. Stand Mitte 2024 gaben dafür 7.000 Versuchsteilnehmende über ihren Erwerb und Konsum Auskunft. Noch präsentieren die Forschenden keine belastbaren Erkenntnisse. Einer Zwischenbilanz zufolge verlaufen jedoch “die Pilotversuche bislang ruhig und die Zusammenarbeit zwischen den zahlreichen beteiligten Akteuren ist ausgezeichnet”. 

Cannabis-Shops nach Schweizer Vorbild

Einer der Träger ist neben dem Schweizer Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung die Sanity Group. Das Berliner Unternehmen hat sich dafür beworben, in zwei Berliner Stadtbezirken Testverkaufsstellen für Cannabis einzurichten. Hintergrund ist ein Ausweg, den die abgewählte Ampelkoalition in den letzten Tagen ihre Amtszeit einschlug: Weil das Einrichten von Cannabis-Shops an EU-Recht scheiterte, erlaubte das grün geführte Landwirtschaftsministerium nach Schweizer Vorbild die “Forschung an und mit Konsumcannabis”. Denn auch zu wissenschaftlichen Zwecken darf es angebaut oder importiert und – das ist entscheidend – auch an die Teilnehmenden von Modellversuchen abgegeben werden. “Damit entstünde eine klare Trennung zwischen Konsum und Therapie”, sagt Sanity-CEO Hänsel. “Wer Cannabis konsumieren möchte, muss sich nicht länger in eine medizinische Indikation pressen lassen.” Neben Berlin wollen knapp 30 weitere Kommunen solche Test-Shops einrichten. 

Bis die aber Wirklichkeit werden, hoffen die Cannabisunternehmen auf einen Kompromiss – und auf die SPD. Der Koalitionspartner von Warkens CDU war in der Ampel Mitbefürworter der Cannabislegalisierung. Die Branche hofft, dass Warkens Gesetzesänderung mithilfe der Sozialdemokraten abgemildert werden kann. Sie wollen, dass zumindest Videosprechstunden möglich bleiben. Niklas Kouparanis, Co-Gründer und CEO der Bloomwell Group, sagt: “Für die meisten Indikationen lässt sich dieses Gespräch, falls überhaupt erforderlich, ebenso gut online abbilden.” Auch wehren sich die Unternehmen dagegen, dass die Empfänger die Blüten persönlich in einer Apotheke abholen müssen. “Es erschließt sich kein einziger logischer Grund, den Versandhandel über Apotheken einzuschränken”, sagt Kouparanis. Die Gesundheitsministerin sieht das anders: Weil Cannabis kein gewöhnliches Medikament sei, “bestehen umfassende Aufklärungs- und Beratungspflichten”, sagt Warken. Das müsse “im Rahmen einer persönlichen Beratung in der Apotheke erfolgen”. Während die Onlineapotheken bereits vor drohenden Insolvenzen warnen, dürften die niedergelassenen auf Warkens Seite sein. Denn sie profitieren insbesondere von Beratung und Abgabe. 

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