Burgkirchen an der Alz: Urnengräber mit Giftbeigaben – Bayern | ABC-Z
Vom Friedhof der Gemeinde Burgkirchen geht der Blick übers Ortszentrum und das Flusstal hinüber bis zum Chemiepark Gendorf am anderen Hochufer der Alz. Dort drüben wurde jahrzehntelang Perfluoroctansäure produziert – jene Substanz, derentwegen der Aushub aus den frischen Gräbern am Friedhof jetzt in einer großen, aus Betonsteinen geformten Schütte zwischengelagert werden muss, bis die Schadstoffproben gezogen und analysiert sind. Viel Erde ist es nicht, denn auch hier im oberbayerischen Burgkirchen stecken die hellen Holzkreuze von den jüngsten Bestattungen meistens an kleinen Urnengräbern. Aber das Problem ist groß. Praktisch jeder in der Umgebung wird irgendwann eine winzige Menge PFOA mit sich ins Grab nehmen. Und die Leute wissen schon zu Lebzeiten nicht, wohin damit.
PFOA gilt als gesundheitsgefährdend und in größeren Mengen als krebserregend. Es zählt zu den Per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS), die wegen ihrer Langlebigkeit oft „Ewigkeitschemikalien“ genannt werden. Spuren dieser Stoffe finden sich längst überall auf der Welt, von der Tiefsee bis zur Antarktis, im Grundwasser und im Blut der Menschen. Im Blut der Menschen im Landkreis Altötting findet sich besonders viel.
Entsprechende Probenergebnisse aus örtlichen Blutspenden haben viele Menschen in der Region 2017 aufgeschreckt. Dass sich PFOA im Wasser, in den Fischen in der Alz, in den Wildschweinen im Öttinger Forst und im Boden des halben Landkreises angesammelt hat, war schon davor bekannt, hatte aber kaum groß gestört. Zu gut leben die Leute hier im „bayerischen Chemiedreieck“ von der Industrie – auch der im Chemiepark Gendorf, wo das PFOA von 1968 bis 2003 hergestellt und noch bis 2008 weiterverarbeitet wurde, für Beschichtungen etwa von Funktionskleidung, Geschirr und Dichtungen.
PFOA ist seit 2020 in der gesamten EU verboten, aber allein das bringt die Ewigkeitschemikalie noch nicht zum Verschwinden. Für das Trinkwasser, die angenommene Hauptaufnahmequelle für die Menschen, ist das im Landkreis Altötting inzwischen weitgehend gelungen. Wirksame Filter holen das PFOA aus dem Grundwasser. Dieses jedoch wird noch viele Jahrzehnte belastet bleiben, weil das Gift auch im Boden steckt. Der Umgang damit stellt den Landkreis Altötting vor riesige Probleme.
Auf ungefähr 200 Quadratkilometern Fläche galt der Boden bisher als belastet, knapp ein Drittel des Landkreises. Das Landratsamt hat vier verschiedene Zonen definiert, innerhalb derer der jeweilige Erdaushub bleiben soll, um das PFOA nicht noch weiter zu verbreiten. Doch weil sich die standardisierte Analysemethode für Bodenproben verändert hat, wird das Amt wohl bald noch viel größere Flächen als belastet ausweisen müssen. Und auch all die verschiedenen Unbedenklichkeits-, Richt- und Grenzwerte ändern sich immer wieder. Lange Zeit gab es für PFOA wenig bis gar keine Regelungen, doch zuletzt wurden sie immer strenger.
Inzwischen muss von jedem Erdaushub eine Probe gezogen werden, und seien es nur ein paar Schaufeln Erde aus einem Urnengrab. Bis zum vergangenen März galt zwar eine Bagatellgrenze, aber dann hat der Freistaat neue Leitlinien herausgegeben, die strenger waren als die auf Bundesebene. Dadurch wurde praktisch jede Schaufel Erde im Landkreis Altötting zum entsorgungspflichtigen Abfall, und auch jene bis zu 500 Kubikmeter Erde, die beim Bau eines durchschnittlichen Einfamilienhauses anfallen und bisher als vernachlässigbar angesehen worden waren.
All das durfte plötzlich nicht mehr in dem runden Dutzend Gruben im Landkreis verfüllt werden. Schnell war von einem faktischen Baustopp für alle die Rede. „Ein richtig großes Investitionshemmnis“, nennt das etwa der Burghauser Bürgermeister Florian Schneider (SPD), der da nicht nur an Unternehmen und an private Bauherren denkt, sondern auch an Kommunen, die Straßen bauen und Baugebiete erschließen wollen.
Aus dem Landratsamt kommt nun vorsichtige Entwarnung, denn inzwischen hätten Landrat Erwin Schneider und der CSU-Generalsekretär Martin Huber als örtlicher Landtagsabgeordneter der Staatsregierung die praktischen Auswirkungen der neuen Regelung verdeutlicht. Die nächste Neuregelung werde die Änderung zurücknehmen. Sie wird demnach gerade in Schriftform gebracht, mündlich sei sie schon mitgeteilt und werde bereits angewandt.
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Proben werden aber weiter nötig sein, und wenn sie eine wirklich hohe Belastung ergeben, muss das Erdreich weiterhin gegen hohe Gebühren auf eine zugelassene Deponie gebracht werden, derzeit meist in die Nähe von Regensburg. Bis zum Zwanzigfachen der normalen Entsorgungskosten würde da fällig, rechnet der Burgkirchener Bürgermeister Johann Krichenbauer (FW) vor, der nun aber auch wieder Hoffnung schöpft für die Graberde vom Friedhof.
In zwei Jahren will der Landkreis eine eigene, hoch gesicherte Deponie nur für die PFOA-verseuchte Erde in Betrieb nehmen. Noch ist das Gelände eine schlichte Kiesgrube. Doch die Planung ist praktisch fertig, mit der Genehmigung rechnet das Landratsamt in etwa einem Jahr. Allein für den Bau der Deponie werde man wohl bis zu 300 000 Kubikmeter belastete Erde verwenden können. Ob die anvisierte Kapazität von 600 000 Kubikmetern dann für zehn oder sogar für 20 Jahre reichen wird, ist angesichts der sich ständig ändernden Flächen und Grenzwerte offen – ebenso wie die Frage, wer für all das bezahlen soll. Langfristig würden wohl mindestens 70 Millionen Euro nötig, heißt es aus dem Landratsamt, Burghausens Bürgermeister Schneider rechnet eher mit einem „dreistelligen Millionenbetrag“.
Die etliche Hunderttausend Euro teure Planung hat der PFOA-Produzent Dyneon aus dem Chemiepark Gendorf bezahlt. Doch Dyneon ist nur einer von drei Rechtsnachfolgern des einstigen Herstellers Hoechst. Der US-amerikanische Dyneon-Mutterkonzern 3m hat angekündigt, sich weltweit aus der PFAS-Produktion und bis Ende 2025 auch aus Gendorf zurückzuziehen. Das wird mehr als jeden zehnten der zuletzt 4300 Arbeitsplätze im Chemiepark kosten und auch andere Unternehmen drumherum in Mitleidenschaft ziehen. PFAS werden dann wohl nur noch außerhalb Europas hergestellt, was unter anderem die bayerische Staatsregierung als „wirtschaftspolitisches Desaster“ kritisiert. Doch auch wenn Dyneon bald geht: Die Probleme werden noch lange nicht begraben sein.