Bundeswehr bereitet Unternehmen auf den Kriegsfall vor | ABC-Z
In Deutschland beginnen Vorbereitungen für den Fall eines Krieges, der noch direktere Auswirkungen auf die Bundesrepublik hat als der russische Angriff auf die Ukraine. Nach Informationen der F.A.Z. schult die Bundeswehr seit Kurzem Unternehmen auf Grundlage des von der Politik beschlossenen „Operationsplan Deutschland“. Das Strategiepapier ist in seiner ersten Fassung 1000 Seiten lang und in den Details geheim. Es listet beispielsweise alle Bauwerke und Infrastruktureinrichtungen auf, die aus militärischen Gründen besonders schützenswert sind. Es enthält auch detaillierte Planungen, wie im Verteidigungsfall vorgegangen werden sollte, oder zuvor schon, im Spannungsfall, also wenn man etwa auf ein russisches Manöver an der Ostflanke der NATO mit Abschreckung reagieren würde. Deutschland würde dann zur Drehscheibe für Zehntausende, womöglich Hunderttausende Soldaten, die nach Osten transportiert werden müssten, dazu Kriegsmaterial, Lebensmittel, Medikamente.
Die Rolle der Wirtschaft ist in dem Plan klar umrissen. In der Handelskammer Hamburg gab es nun eine erste Veranstaltung, in der Unternehmen direkt angesprochen wurden. Jörn Plischke, Oberstleutnant und Chef des Landeskommandos Hamburg, gab dabei konkrete Ratschläge. „Bilden Sie auf hundert Mitarbeiter mindestens fünf zusätzliche Lkw-Fahrer aus, die Sie nicht benötigen“, lautet sein Vorschlag nach F.A.Z.-Informationen. Der Grund für die Maßnahme: „70 Prozent aller Lastwagen auf Deutschlands Straßen werden von Osteuropäern bewegt. Wenn dort Krieg ist, wo werden dann diese Leute sein?“ Für den Ernstfall rät er, für das eigene Unternehmen einen konkreten Plan zu machen, was von welchen Beschäftigten in Krisenfällen erwartet werde. Zum Selbstschutz sei es wichtig, dass die ganze Belegschaft ein Gefühl für Sicherheitsfragen bekomme. Auch um Autarkie könne man sich bemühen, sagt der Oberstleutnant und bringt den Dieselgenerator ins Spiel oder ein eigenes Windrad. Der Oberstleutnant versucht Unternehmen in Handel, Industrie und Landwirtschaft „aufzurütteln“. Gespräche wie diese in Hamburg gibt es schon im ganzen Land. „Alle Landeskommandos sind beauftragt mit der Umsetzung“, teilt die Bundeswehr mit.
Um den Ernst der Lage zu betonen, verweist Jörn Plischke auf Drohnenüberflüge und Ausspähversuche, Waffenlagerfunde und Attentatsplanungen auf Topmanager, Sabotage und Cyberangriffe, die „täglich und in steigender Frequenz“ zu beobachten seien. „Shaping the Battlefield“ nenne man das: „Russland hat angefangen, seinen Krieg vorzubereiten.“ In vier bis fünf Jahren werde Russland willens und in der Lage sein, weiter nach Westen anzugreifen, berichtet Plischke unter Berufung auf die deutschen Nachrichtendienste. Und er malt ein düsteres Bild vom Tempo der Aufrüstung: „Russland produziert im Moment 25 Kampfpanzer pro Monat, Deutschland drei im Jahr.“
Was tun, wenn die Elbe gesperrt ist, das Schienennetz angegriffen wird?
Bei einer anderen Veranstaltung, dieses Mal vor dem Hamburger Michel, fragt der Bundeswehrmann ganz konkret: „Was tun, wenn verbündete Truppen durch unsere Stadt müssen? Was tun, wenn die Elbe gesperrt ist, das Schienennetz angegriffen wird? Was tun, wenn Rewe und Aldi wegen Strommangel nicht öffnen können, die Straßen von Militärkolonnen genutzt werden und Wasser nicht mehr aus dem Hahn fließt?“
In Krisenfällen seien jene Unternehmen im Vorteil, die Beschäftigte im Heimatschutz hätten, oder auch beim THW oder bei der Feuerwehr: „Das zu unterstützen kostet Sie im Jahr wenige Tage, in der Krise haben Sie aber einen direkten Link zu den Leuten, die Hamburg schützen werden“, rechnete der Oberstleutnant den in der Handelskammer versammelten Unternehmern vor. Dort fand Plischke grundsätzlich Unterstützung mit seiner Mission, sagt Malte Heyne, Hauptgeschäftsführer der Handelskammer auf Anfrage. „Wir müssen das Bewusstsein schärfen, wie wichtig eine gut vorbereitete und widerstandsfähige Wirtschaft für die zivile und militärische Verteidigung Deutschlands ist“, sagt Heyne.
In der Politik stößt das Vorgehen der Bundeswehr auf offene Ohren, berichtet Oberstleutnant Plischke über seine Aufklärungsarbeit, gerade in Hamburg, wo man sich der logistischen Bedeutung des Hafens bewusst sei. „Im Falle einer militärischen Nutzung unserer Infrastruktur steigt das Risiko für Cyberattacken und Sabotage noch einmal deutlich an“, bekräftigte Hamburgs Bürgermeister Tschentscher anlässlich der Veranstaltung am Michel, wo eine dritte Heimatschutz-Kompanie in Dienst gestellt wurde: Freiwillige, die nicht dem kämpfenden Teil der Bundeswehr zuzurechnen sind, sondern für Schutz- und Sicherungsaufgaben herangezogen werden. Der Hamburger Senat hat seinerseits auf die Bedrohungslage schon reagiert und mehr als 40 zusätzliche Stellen geschaffen, um Krisenbewältigung und Bevölkerungsschutz zu stärken.
Im Manöver „Red Storm Bravo“ wird es um Transport und Logistik gehen
Auch eine erste gemeinsame Übung zwischen zivilen Kräften und der Bundeswehr gab es schon. Bei der Übung „Red Storm Alpha“ wurde der Schutz von Kaianlagen im Hafen geübt, um Ausspähversuche abzuwehren und Sabotageakte verhindern zu können. Der Name der Übung lässt erahnen: Die Übung „Red Storm Bravo“ ist schon in Vorbereitung, etwas größer angelegt als die Alpha-Variante. Möglichst viele sollen mit dabei sein, vor allem aus Transport und Logistik. Die Erfahrungen aus solchen Übungen fließen wiederum in den „Operationsplan Deutschland“ ein, der trotz seiner 1000 Seiten keineswegs fertig ist, weil vielfach Informationen erst bruchstückhaft vorliegen. Vom „living document“ spricht man bei der Bundeswehr.
Der Rechtsrahmen in Deutschland könnte im Fall des Falles für einen weitreichenden Durchgriff auf die Unternehmen ausreichen. Im Zuge der Gasversorgungskrise war schon erkennbar, wie schnell die Politik die Regeln diktiert hat. Ähnliches gilt für die Sicherung des Lebensmittelbedarfs, wo der Staat eine Versorgungskrise feststellen und sogar Lebensmittelmarken wieder einführen könnte, wie viele Menschen sie nur aus Erzählungen von früher kennen. Auch für Arbeitnehmer ist vieles geregelt, etwa im Arbeitssicherstellungsgesetz, durch das die Verpflichtung zur Tätigkeit in bestimmten Bereichen ermöglicht wird, von der Wasserversorgung bis zu Verkehrsunternehmen. „Wenn es zur Abwendung schwerwiegender Gefahren unerlässlich sein sollte, würden die Regelungen sogar eine Umstellung der gesamten Wirtschaft auf Planwirtschaft durch den Staat erlauben“, schreibt Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, im Vorwort zu einer entsprechenden Gesetzessammlung vor wenigen Wochen. Im Ernstfall könnte es sehr schnell zu Änderungen kommen, fügt Brossardt hinzu und zitiert den Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke, der schon im Jahr 1890 das umschrieb, was heute wohl auch mit „living document“ gemeint ist: „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung.“