Geopolitik

Historische Erklärung: „Legt die Waffen nieder“ – Das Machtkalkül von Erdogan hinter seiner Einigung mit den Kurden | ABC-Z

Der Anführer der kurdischen PKK, Abdullah Öcalan, hat das Ende des bewaffneten Kampfes angeordnet. Dass Erdogan gerade jetzt den jahrzehntelangen Konflikt beenden will, hat handfeste Gründe. Es geht auch um seine eigene politische Zukunft.

Die Verlesung des historischen Aufrufs dauerte nur wenige Minuten. „Ich rufe zur Entwaffnung auf und übernehme die historische Verantwortung für diesen Aufruf“. So ließ es Abdullah Öcalan, der inhaftierte Anführer der PKK, von Vertretern bei einer Pressekonferenz in Istanbul übermitteln. Und weiter: „Alle Gruppen müssen die Waffen niederlegen und die PKK muss sich auflösen.“ Die PKK ist eine kurdische Miliz, die in der Türkei und der EU als Terrororganisation gelistet ist.

Dieser Donnerstag hat in der Türkei potenziell einen Epochenbruch eingeleitet und bietet eine neue Chance auf eine Lösung des Kurdenkonflikts, der die Türkei seit über 40 Jahren beschäftigt. Dieser Tag bedeutet aber auch eine neue Machtoption für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und die Umsetzung für ihn wichtiger außenpolitischer Ziele.

Vertreter der prokurdischen DEM-Partei hatten Öcalans Erklärung in Istanbul verlesen, zunächst auf Kurdisch, dann auf Türkisch. Eine Delegation der Partei hatte Öcalan am Morgen zunächst im Gefängnis auf der Insel Imrali im Marmarameer besucht. Dort sitzt der 75-Jährige seit 1999 in Haft. Den Impuls für einen neuen Friedensprozess gegeben hatte der türkische nationalistische Politiker Devlet Bahceli, dessen MHP die Erdogan-Regierung unterstützt.

Weitere Details eines möglichen Deals zwischen der PKK und dem türkischen Staat sind nicht bekannt. Das Unterfangen birgt hohe Risiken. Aber wenn es gelingt, gibt es viel zu gewinnen – für die Türkei, die Region und für Erdogan persönlich.

Zunächst die außenpolitische Dimension. Der Nahe Osten befindet sich im Umbruch. Russland, das über seine Stützpunkte in Syrien in der Region engagiert war, ist mit seinen Ressourcen im Ukraine-Krieg gebunden. Im Zuge des Gaza-Kriegs hat Israel die Hisbollah, eine Stellvertreter-Miliz des Iran, stark geschwächt. Als Folge konnten Rebellen das Assad-Regime in Syrien stürzen.

Auch die Kurdenfrage gewinnt vor diesem Hintergrund an Komplexität. Im syrischen Nordosten haben kurdische Milizen eine Selbstverwaltung errichtet, doch deren Zukunft ist nach dem Sturz des Regimes ungewiss – die neuen Machthaber wollen das Gebiet in ihre Ordnung integrieren.

Die Erdogan-Regierung, die jegliche kurdische Autonomie als Gefahr der nationalen Sicherheit betrachtet, stellt sich schon lange auch militärisch gegen die kurdische Selbstverwaltungszone. Für sie sind die dortigen Strukturen identisch mit der PKK. Aber gleichzeitig sind die syrischen Kurden wichtige Verbündete der USA im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Auch Israel positionierte sich zuletzt zu ihren Gunsten: Im November nannte der israelische Außenminister Gideon Saar die Kurden „natürliche Verbündete“.

Solche Vorgänge sind aus Ankaras Sicht ein großes Risiko, denn sie könnten dazu führen, dass die Kurdenfrage der türkischen Regierung entgleitet. Schon die Möglichkeit, dass das Machtvakuum im Nahen Osten diese Schulterschlüsse der Kurden begünstigen könnte, bewegt Ankara dazu, sich des Themas selbst anzunehmen.

Zwar ist unklar, inwiefern sich Öcalans Entwaffnungsaufruf auf die kurdischen Strukturen in Syrien auswirken wird. Aber es gibt Indizien. Salih Muslim, ein Vertreter der kurdisch-syrischen Partei PYD, sagte dem emiratischen Fernsehsender al-Arabiya unmittelbar nach dem Aufruf: „Wenn man uns erlauben würde, politisch zu arbeiten, bräuchten wir keine Waffen“. Muslim, dessen Partei in Ankaras Augen zur PKK gehört, sagte weiter: „Wenn die Gründe für das Tragen von Waffen entfallen, werden wir diese niederlegen.“

Auch das Verhältnis zum Westen ist durch das türkische Vorgehen gegen kurdische Milizen, Politiker und die Zivilgesellschaft belastet. Eine Lösung in dieser Frage könnte sich daher positiv auf Ankaras Verhältnis zu Brüssel, Berlin und andere Europäer auswirken.

Innenpolitisch geht es vorrangig um politische Allianzen. Erdogan hatte vor zehn Jahren schon einmal einen Friedensprozess mit der PKK initiiert. Auch damals rief Öcalan zur Niederlegung der Waffen auf, doch die Miliz stellte sich gegen ihren inhaftierten Anführer. Wie sich die Kämpfer heute verhalten, wird zu beobachten sein.

Nach dem Scheitern des Friedensprozesses suchte Erdogan damals eine Allianz mit nationalistischen Kräften, die vehement gegen jegliche kurdische Autonomie sind. Darin liegt nun eine Gefahr für die Regierung: Eine moderate Kurdenpolitik könnte auf Ablehnung der Nationalisten stoßen. Dass aber ausgerechnet der nationalistische Erdogan-Verbündete Bahceli den Prozess im vergangenen Jahr anstieß, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.

Denn es könnten sich neue Machtoptionen für den Präsidenten ergeben. Laut Verfassung kann Erdogan bei der nächsten Wahl, die spätestens 2028 abgehalten werden muss, nicht mehr antreten. Diese Beschränkung ließe sich umgehen, wenn entweder das türkische Parlament vorgezogene Neuwahlen auslöst – oder wenn die Verfassung geändert wird. Dafür fehlt es der regierenden AKP an einer ausreichenden Mehrheit. Sollte die prokurdische DEM-Partei, die nun auch Öcalans Aufruf übermittelte, im Sinne der Regierung stimmen, sähe dies anders aus.

Eine offene Frage ist, was die türkische Regierung der PKK und anderen kurdischen Gruppen im Gegenzug zu einer Entwaffnung anzubieten hat. Möglich wären eine Entlassung oder Hafterleichterung Öcalans, die Freilassung weiterer politischer Gefangener, mehr kulturelle Rechte für den kurdischen Teil der Bevölkerung, eine neue Definition der Staatsangehörigkeit in der türkischen Verfassung, die in ihrer jetzigen Form das Türkentum stark betont, sowie eine stärkere politische Repräsentation der Kurden.

Wie weit Ankara zu Zugeständnissen bereit ist, bleibt abzuwarten. Erdogan hält sich bislang bedeckt – offenbar, um den Verlauf des Prozesses und die öffentliche Stimmung zu sondieren. Sicher ist indes: Nur, solange es den Interessen des Präsidenten dient, wird er den Kurs mittragen.

Carolina Drüten ist Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul. Sie berichtet außerdem über Griechenland, die Länder des westlichen Balkans, Rumänien und die Republik Moldau. Im Auftrag von WELT ist sie als Autorin und Live-Berichterstatterin für den Fernsehsender unterwegs.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"