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Bundesopferbeauftragter über Magdeburg: „Die Sensibilität für die Belange der Opfer ist gestiegen“ | ABC-Z

taz: Herr Kober, Sie waren in Magdeburg vor Ort. Wie haben Sie die Situation wahrgenommen?

Pascal Kober: Es sind sehr unterschiedliche Wahrnehmungen, über die ich berichten kann Es gibt zum einen große Solidarität, auch Dankbarkeit für die Unterstützung. Aber es gibt auch Wut, Enttäuschung, Entsetzen.

taz: Inwiefern herrscht Enttäuschung?

Kober: Ich war viel in der Stadt unterwegs und habe Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern geführt. Und wenn man dann am Anschlagsort ist und ihre Gespräche untereinander hört, dann spiegelt sich da auch Enttäuschung wider. Die Tonalität in den Äußerungen war unterschiedlich. Viele hinterfragen, warum es überhaupt dazu kommen konnte.



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Bernd von Jutrczenka/dpa

Im Interview: Pascal Kober

50 Jahre, FDP, ist seit Januar 2022 Beauftragter der Bundesregierung für die Anliegen von Betroffenen von terroristischen und extremistischen Anschlägen. Der Reutlinger und evangelische Pfarrer war von 2009 bis 2013 Bundestagsabgeordneter und sitzt seit 2017 erneut im Parlament in Berlin.

taz: Jetzt wird der Anschlag auch im Wahlkampf thematisiert. Wie beeinflussen politische Debatten und Demonstrationen, wie z. B. Kundgebung der AfD die Situation der Betroffenen?

Kober: Ich beziehe mich auf Erfahrungen, die ich bei früheren Anschlägen gemacht habe. Politische Schlussfolgerungen gehen einem Teil der Betroffenen generell zu schnell und zu weit. Die Betroffenen haben unterschiedliche politische Orientierungen und Überzeugungen. Manchmal fühlt man sich von einer politischen Aussage angesprochen, von einer anderen abgestoßen. Insofern kann man es niemandem so richtig recht machen. Deshalb würde ich, wenn ich Ratschläge erteilen müsste, der Politik empfehlen, sich zumindest in den ersten Tagen zurückzuhalten. Zuerst sollte die Sachlage geklärt werden. Voreilige Schlussfolgerungen sind nicht angemessen. Ich glaube, es zeigt keine Souveränität, wenn man sich zu früh positioniert.

taz: Welche konkreten Maßnahmen wurden bisher ergriffen, um die Opfer und ihre Angehörigen in Magdeburg zu unterstützen? Gibt es eine zentrale Anlaufstelle?

Kober: Kurz nach dem Anschlag am vergangenen Freitag, etwa um 19 Uhr, waren die Notfallseelsorge und der polizeiliche Opferschutz vor Ort, um den Menschen sofort Ansprechmöglichkeiten zu bieten. Bereits am Samstag haben mein Team und ich dann ein Hilfetelefon geschaltet, das rund um die Uhr erreichbar ist. Mithilfe der Landesregierung und der Medien wurden die Nummer sowie weitere Kontaktmöglichkeiten schnell verbreitet. Am Montag habe ich dann gemeinsam mit der Opferbeauftragen des Landes Sachsen-Anhalt ein Schreiben an alle uns bisher bekannten Hinterbliebenen, Verletzten und Tatzeugen verschickt. Diese Maßnahmen richten sich an alle Betroffenen, auch an Menschen, die sich erst später bei uns melden, da sie zunächst Abstand gewinnen wollen. Unser Angebot bleibt dauerhaft bestehen, und wir stehen den Betroffenen weiterhin als Ansprechpartner zur Verfügung. Wichtig ist dabei, dass die Leistungen des Sozialstaats schnell, unkompliziert und wenig belastend die Betroffenen erreichen, wenn sie es wünschen.

taz: Wie wird definiert, wer als Opfer oder Betroffener des Anschlags gilt? Gibt es bestimmte Kriterien?

Kober: Als Betroffene sehen wir nicht nur die Personen, die verletzt wurden und die Angehörigen der Getöteten. Zu den Betroffenen zählen wir auch Personen, die die Tat aus der Nähe erlebt haben. Als Tatzeugen werden sie von der Polizei erfasst und uns gemeldet. Aber auch wer im Nachgang glaubhaft versichern kann, dass er vor Ort war, aber zunächst nicht erfasst wurde, kann Unterstützung erhalten.

taz: Mit wie vielen Betroffenen rechnen Sie?

Kober: Fest steht, dass die fünf Getöteten Angehörige hinterlassen haben. Die Zahl der Verletzten wurde bereits von anderen Stellen veröffentlicht – etwa 200 Personen. Aus Erfahrung weiß man, dass die tatsächliche Zahl der Betroffenen noch deutlich höher liegen kann, da viele später Unterstützungsbedarf anmelden, weil sie etwa traumatisierende Szenen beobachtet haben. Die Zahl ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abzuschätzen. Sicher ist aber, dass noch mehr Menschen Unterstützung benötigen werden als bisher bekannt.

taz: Was brauchen die Betroffenen aus Ihrer Sicht am dringendsten – psychologisch, finanziell oder organisatorisch?

Kober: In der ersten Phase nach einem solchen Ereignis brauchen die Betroffenen vor allem Unterstützung, um wieder gesund zu werden – sowohl psychisch als auch physisch. Für Augenzeugen oder Menschen, die körperlich verletzt wurden, ist es wichtig, Angebote wie eine Trauma-Ambulanz in Anspruch zu nehmen. Viele wissen aber nicht, dass sie einen Rechtsanspruch darauf haben oder wie sie diese Hilfe bekommen können. Hier setzen wir an, informieren sie über ihre Möglichkeiten und helfen bei der Antragsstellung. Darüber hinaus spielen Gesundheitsversorgung, Rehabilitation und Unterstützung bei der Rückkehr in den Alltag eine zentrale Rolle.

taz: Welche finanziellen Hilfen gibt es, und wie wird geregelt, wer Anspruch auf Entschädigungen hat?

Kober: Bei den finanziellen Leistungen kommt es auf den individuellen Bedarf an. Liegt beispielsweise eine Erkrankung oder Verletzung vor, die die Ausübung des Berufs teilweise unmöglich macht, gibt es Möglichkeiten wie Berufshilfe oder Berufsschadensausgleich. Kann die Erwerbsfähigkeit dauerhaft nicht vollständig wiederhergestellt werden, besteht die Möglichkeit, eine Erwerbsminderungsrente zu beziehen. Diese Leistungen hängen von den jeweiligen Diagnosen und der Prognose der Ärzte ab und werden individuell festzustellen sein.

taz: Es ist gleichzeitig der achte Jahrestag des Anschlags am Breitscheidplatz. Welche Fortschritte wurden seither im Opferschutz erreicht, und wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf?

Kober: Ein großer Fortschritt seit dem Anschlag vom Breitscheidplatz ist die Einrichtung des Bundesopferbeauftragten, also der Funktion, die ich gegenwärtig ausübe. Das gab es vorher nicht. Der Bundesopferbeauftragte unterstützt Betroffene und informiert über ihre Rechte. Darüber hinaus gibt es mittlerweile in 15 Bundesländern Landesopferbeauftragte, die auch koordinierend tätig sind. Die Sensibilität für die Belange der Opfer ist gestiegen, einfach auch durch die Erfahrung des Breitscheidplatzes, aber auch durch das Engagement von Betroffenen oder auch der Landesopferbeauftragten. Die finanziellen Leistungen wurden erhöht und neue Unterstützungsmöglichkeiten wie der Anspruch auf Trauma-Ambulanzen geschaffen. Auch die Erweiterung des Begriffs der Opfer hat dazu beigetragen, dass nunmehr auch Tatzeugen Zugang zu Hilfe haben. Allerdings gibt es noch Verbesserungsbedarf. Antragsverfahren sind oft zu komplex, und es gibt zu viele Anlaufstellen. Begutachtungen werden teils als respektlos und empathielos empfunden, und Verfahren dauern oft zu lange. Die Einführung von Lotsen in Versorgungsämtern ist noch nicht flächendeckend umgesetzt. Zusätzlich belastet die öffentliche Aufmerksamkeit einen Teil der Betroffenen, besonders um Gedenktage. Das stellt eine besondere Herausforderung dar, weil andere Betroffene wiederum die öffentliche Anteilnahme sehr schätzen.

taz: Wie geht es Ihnen persönlich mit diesen Situationen, auch im Hinblick auf Ihre Verantwortung?

Kober: Mich persönlich macht es natürlich auch betroffen, wenn ich sehe, wie die Menschen leiden. Ich lerne viele der Betroffenen persönlich kennen, nicht unmittelbar nach dem Anschlag, aber in den Wochen und Monaten danach, wenn sie Gespräche mit mir wünschen. Dann besuche ich sie etwa, sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Das sind häufig sehr emotionale Begegnungen. Wenn mich das nicht berühren würde, wäre ich wahrscheinlich nicht die richtige Person für diese Aufgabe. Gleichzeitig bin ich in der glücklichen Lage, dass ich in vielen Fällen konkret etwas unterstützend leisten kann. Wenn man in einer solchen Situation helfen kann, ist es weniger belastend. Das erleben auch Einsatzkräfte – wenn sie helfen können, geht es ihnen oft besser. Trotzdem ist es wichtig, auf die eigene Selbstfürsorge zu achten. Es ist wichtig, dass man sich aussprechen kann. Der Datenschutz und die gebotene Vertraulichkeit setzen dabei natürlich enge Grenzen. Aber mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kann ich mich austauschen.

taz: Wie werden Betroffene früherer Anschläge weiterhin unterstützt?

Kober: Das Angebot des Bundesopferbeauftragten ist nicht zeitlich begrenzt. Es richtet sich auch an Betroffene früherer Anschläge, wie zum Beispiel das Oktoberfest-Attentat von 1980. Unser Unterstützungsangebot endet nicht nach wenigen Wochen, sondern bleibt dauerhaft verfügbar.

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