Buhrufe für Verdis „Don Carlo“ an der Wiener Staatsoper | ABC-Z
Mit Verdi habe man seine Not, bekennt der Regisseur im Programmheft, gerade „Don Carlo“, fraglos ein Meisterwerk, lasse der Regie wenig Raum, aber viel Platz für „konzeptuelle Sackgassen“. Die Wiener Staatsoper zeigt zum Saisonauftakt die italienische, vieraktige Fassung, und Kirill Serebrennikows Inszenierung erweist die bittere Wahrheit des Satzes. Ein Meisterwerk wird übermalt. Dabei ist der Ansatz durchaus plausibel. Wenn man die historische Große Oper nicht als Kostümschinken zeigen wolle, müsse eben die Kostümfrage selbst theatralisiert werden. So schauen wir in das sterile, neonausgeleuchtete Labor eines Instituts für Kostümkunde, Bestand Yuste.
Verdis komplexestes Musiktheater
Dieses Kloster am Ende der Welt in der Extremadura war der letzte Zufluchtsort von Kaiser Karl V., der als Herrscher über ein Reich, in dem die Sonne nicht unterging, der irdischen Macht entsagte; ein Rücktritt, der Epoche machte und den Kaiser zum Helden eines Vanitas-Kults. In Yuste setzt nun, gegen Schillers Vorlage, Verdis „Mailänder“ Don Carlo ein, am Grab von Karls Großvater, der als (vermeintliches) Gespenst sich noch einmal in die Politik des Tages einmischt.
Die Dinge laufen ja aus dem Ruder im Hause Habsburg, als Karls’ Vater Philipp die dem Sohn versprochene Valois-Prinzessin Elisabeth selbst heiratet. Außerdem hat sich das Regime Philipps mit einer flandrischen Befreiungsbewegung auseinanderzusetzen, unterstützt vom Thronfolger. Das Politische, hier wird es privat – und zum Thema von Verdis komplexestem Musiktheater.
Serebrennikows Idee ist, das Familiendrama unter den Angestellten eines hypermodernen Museums für historische Kostüme spielen zu lassen. Was sonst im Theater die sicherste Notlösung ist: alle sich dauernd an- und ausziehen zu lassen, hier wird es zum Prinzip. Denn die kostbaren, akribisch rekonstruierten Prachtgewänder werden, und das macht hier schon einen großen Teil der Handlung aus, in allen Schichten, bis auf die Unterkleidung umständlich an- und abgelegt.
Wir sehen eine im spanischen Hofzeremoniell erstarrte Gesellschaft; unterm Brokatwams aber bleibt keine Luft zum Atmen. Die Museumsmenschen der Jetztzeit gehen nicht nur mit dem jahrhundertealten, hochempfindlichen Material um, sie treten auch, je und je, in die Rollen des historischen Personals. Nur Rodrigo Posa macht nicht mit, er ist Aktivist einer Protestbewegung, die sich gegen Konsumismus und moderne Textilverschwendung stellt. Sie sprengen damit das Staatsspektakel der Ketzerverbrennung.
Warum aber verwandeln sich Protestierende, mit Transparenten und T-Shirts, auf denen LIBERTA steht oder dass die Stunde geschlagen habe, auf einer Opernbühne umgehend in bloß fuchtelnde Statisten auf einer Opernbühne? Man kann dem Regisseur gute Absichten und eine einleuchtende Analyse unterstellen und sieht doch kaum mehr als das Scheitern am Drama, soviel auch seine Figuren meist nah der Rampe hin- und herlaufen.
Womöglich meint Serebrennikow die etwas ermüdend exponierte, letztlich vergebliche Arbeit am historischen Material als Bild für das Opernmuseum von heute? Dann aber scheint der viel beschäftigte Regisseur selbst als Teil dessen, was er kritisiert. Denn das sieht alles, hinter der Fadenscheinigkeit des Kostümkonzepts, ziemlich konventionell aus. Fehlt es womöglich an Metier?
Was zu interessieren, momentweise zu berühren vermag am neuen Wiener „Don Carlo“, hat mit Serebrennikows Ideen wenig, viel aber mit der sängerischen und darstellerischen Exzellenz des Ensembles zu tun. Das gilt zuerst für die Elisabeth der Asmik Grigorian. Betritt sie die Bühne, wird sie zum Zentrum. Zum Phänomen dieser von der Zeitschrift „Opernwelt“ eben gekürten „Sängerin des Jahres“ gehört, jeden Text zu einer sehr eigenen Sache zu machen, sie gibt der Partie der Elisabeth mit ihrem weiten Ambitus sowohl Schmerzenstiefe wie Engelshöhen; dazu Wahrhaftigkeit des Ausdrucks.
Die Grigorian ist ein Sonderfall, auch hier, als Teil eines immerhin erstklassigen Casts. Dazu gehört der bestens balancierte Bariton des Posa von Étienne Dupuis, der den Pathos- und Sentimentalitätsfallen der Rolle souverän aus dem Weg geht, er gibt dem Freiheitshelden einen überraschenden Zug ins Schlawinerhafte. Eve-Maud Hubeaux zelebriert lustvoll flammend die vokalen Verführungskünste der Eboli, Roberto Tagliavini, mit erstaunlich leuchtender Höhe, ist ein fieser Mikromanager der Macht im Karo-Sakko.
So einen mag man nicht, noch wenn er in der Reflexion seiner Ungeliebtheit zu Zwischentönen findet. Leider erreichte Joshua Guerrero als Carlo sein tenorales Strahlen nur über ein nerviges Anschleifen der Spitzentöne, zu nah am Klischee eines schluchzenden Liebeshelden.
Der Dirigent kapituliert
Philippe Jordan begründet die Entscheidung für den „Don Carlo“ der Mailänder Fassung von 1884 mit einer höheren Verdichtung und Intensität. Dafür fehlen durch den Wegfall des ursprünglich ersten Akts, der Liebes-Begegnung zwischen Elisabeth und Carlos, und den Blick auf das einfache Volk wichtige Motivationen der späteren Konflikte. Die Wahl mag auch damit zu tun haben, dass die Staatsoper noch die fünfaktige französische Fassung, 2020 von Peter Konwitschny inszeniert, im Repertoire hält. Wo gibt es so was?
Der Dirigent geht es zügig an, mit ein paar schön entdeckten Mittelstimmen, aber auch einem gelegentlichen Hang zum Plakativen. Manchmal, etwa in den blecharmierten Machtmusiken, ist es dann einfach laut. Kurz vor Schluss, in Elisabeths großer Szene „Tu che le vanita“, passt dann auf einmal alles, der Dialog zwischen den fein flackernden Holzbläsern und der Ausnahmesängerin: keine „Begleitung“, pure Magie.
Zwischendurch reichlich Buh-Interventionen vom Rang gegen diesen Verdi im Kostümlabor. Als es vor dem letzten Akt gar nicht aufhören will, winkt der Dirigent mit der weißen Fahne. In Wien ist die Oper noch eine ernste Sache. Ergo wahres Gaudium.