Bürgergeld-Reform: Das wollen die Parteien ändern | ABC-Z

Kerstin Müller (41, echter Name der Redaktion bekannt) arbeitet Vollzeit: Sie kümmert sich um ihren Sohn Hannes (5), der unter dem Kurzdarmsyndrom leidet. Ihr tägliches Programm als Alleinerziehende: Arzttermine, Anträge für Pflege- und Krankenkassen, den Haushalt schmeißen. „So ein darmkrankes Kind macht öfter mal das Bett voll“, sagt die ehemalige Backfachverkäuferin.
Müller bezieht trotzdem Bürgergeld, weil sie theoretisch erwerbsfähig ist. In der Realität ist bei 24/7-Pflege allerdings keine Zeit, noch einen Minijob für zehn Stunden die Woche anzunehmen. „Nur weil ich Bürgergeld beziehe, bin ich nicht stinkfaul und hocke den ganzen Tag auf der Couch“, sagt Müller.
Das Bild von der sozialen Hängematte, in der es sich zu viele eigentlich arbeitsfähige Menschen gemütlich machen, wird in der politischen Debatte seit der Einführung von Hartz IV immer wieder bedient.
Dessen Nachfolger, das seit 2023 von der Ampel-Koalition installierte Bürgergeld, sollte dieses Klischee überwinden. Für einen Vertrauensvorschuss stehen. Dafür wurde an einigen Stellschrauben gedreht – und genau deshalb steht es im Wahlkampf wieder zur Debatte.
Schnelle statt qualifizierte Vermittlung?
Allen voran die Vermittlung in Arbeit: Nahezu alle Bundestagsparteien denken, dass hier umgesteuert werden müsse. Hartz IV hatte priorisiert, Menschen möglichst schnell wieder in einen Job zu bekommen – wenngleich nur kurzfristig oder niedrig qualifiziert.
Das Bürgergeld hat den Fokus auf die qualifizierte Weitervermittlung verschoben. Zwei Drittel der Arbeitsuchenden im Bürgergeld hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung, teilt die Bundesagentur für Arbeit (BA) der AZ mit – dem gegenüber steht ein Arbeitsmarkt, der nach Fachkräften lechzt.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) teilt dazu auf Anfrage der AZ mit: „Allgemein zeigt die Forschung, dass geförderte Weiterbildung positive Effekte auf die Beschäftigungschancen hat.“ Wie erfolgreich dieser Ansatz in der Realität ist, kann Stand jetzt noch gar nicht beurteilt werden.
Das IAB erklärt, dass viele Qualifizierungen drei Jahre dauerten und anschließend der Verbleib in den Jobs beobachtet werden müsse – weil es das Bürgergeld aber erst seit 2023 gibt, liegen noch keine Analysen vor. Wie die neue Vermittlung wirkt, lässt sich also noch gar nicht beurteilen.

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Wie wichtig Weiterbildungen und Umschulungen sind, zeigt etwa der Fall von Bürgergeldempfängerin Sabine Basa (60), die seit zehn Jahre staatliche Hilfe bezieht. Sie habe zuvor als Reinigungskraft gearbeitet, bevor sie sich beim Heben eines zu schweren Müllsacks den Lendenwirbel verletzte, erzählt sie der AZ. Körperlich könne sie nicht mehr arbeiten. Sie hätte für die Rückkehr in den Jobmarkt umsatteln müssen.
Union möchte „Vermittlungsvorrang“ von Hartz IV zurück
Die SPD möchte wie die Grünen die „nachhaltige Vermittlung“ durch Aus- und Weiterbildung beibehalten. Das BSW fordert, dass besonders junge Menschen ausgebildet werden müssten für bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Linke will die Qualifizierungsaufgaben der Jobcenter sogar noch ausweiten, um die beruflichen und sozialen Fähigkeiten der Menschen ihren „Wünschen und Qualifikationen“ entsprechend zu entwickeln, sagt ein Sprecher der AZ.
Die Union setzt hingegen ganz klar auf den „Vermittlungsvorrang“ aus Hartz-IV-Zeiten, den sie laut Wahlprogramm wieder einführen will. Das heißt, eine schnelle Rückkehr auf den Arbeitsmarkt steht im Fokus. Wie das mit der Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften zusammenpasst, teilten CSU und CDU auf Nachfrage der AZ nicht mit.

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Die AfD möchte bei der Vermittlung ein sogenanntes „Matching“-Verfahren einführen. Sie kritisiert, dass bei der Bundesagentur für Arbeit das „berufskundliche Wissen der Integrationsfachkräfte“ häufig unzureichend sei und diese daher nicht die Selbstauskünfte der „Kunden“ beurteilen könnten.
Die AfD teilt auf Anfrage der AZ mit: „Für das Matching zwischen Jobangebot und Bürgergeldempfänger wird aber genau dies gebraucht, damit realistische Fähigkeitszuschreibungen (,Englisch Grundkenntnisse‘ statt wie angegeben ,Englisch fließend‘) an die Arbeitgeber kommuniziert werden.“
Die FDP fordert eine „aktive Bringschuld“ und „Eigeninitiative“: Leistungsbezieher sollen beweisen, dass sie sich selbst bemühen, die eigene Hilfsbedürftigkeit durch „Arbeit und Qualifizierung zu überwinden“.
Auch die Zumutbarkeitsregeln sollen angepasst werden: längere Pendelstrecken und Umzüge für jene ohne Kinder und pflegebedürftige Angehörige sollen möglich sein. Welche Entfernung hier gemeint ist, hat die FDP auf Nachfrage der AZ nicht beantwortet.
Sanktionen: Umstrittener Einsatz und Nutzen
Eng verbandelt mit dem Streitpunkt Vermittlung ist auch das Thema Sanktionen. In der Theorie sollen sie als Anreiz dienen, um Arbeit anzunehmen: Wer ein „zumutbares Arbeitsangebot“ ablehnt oder zu einem Termin nicht erscheint, der bekommt beim Bürgergeld zehn Prozent weniger von seinem Regelbedarf für einen Monat.
Kommt das ein zweites Mal vor, erhöht sich der Abzug auf 20 Prozent für zwei Monate, bei einem dritten Mal auf 30 Prozent für drei Monate. 80 Prozent solcher Kürzungen gehen laut BA auf „Meldeversäumnisse“ zurück.
Eine IAB-Studie aus 2024 zeigt, dass mehr Sanktionen zwar für schnellere Beschäftigungen sorgen, aber zugleich zu niedriger qualifizierten Anstellungen führen. Eine Langzeitstudie des Instituts für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES) hat im Auftrag des Vereins Sanktionsfrei festgestellt, dass jede Sanktion „unabhängig von Dauer und Höhe kontraproduktiv“ sei.
Denn sie „fördern die soziale Isolation der Betroffenen und erzeugen einen immensen Druck, sie können psychische Erkrankungen verursachen oder verstärken“. Ein weiteres Problem an den Sanktionen: Es werde so „eine Unterschreitung des Existenzminimums in Kauf genommen“, teilt Sanktionsfrei auf Nachfrage der AZ mit.
Was beide Studien gemein haben: Sie untersuchten lediglich Hartz IV – inwiefern Sanktionen beim Bürgergeld überhaupt eine andere Wirkung erzielen, ist noch nicht bekannt.
Union und BSW wollen Bürgergeld für manche komplett streichen
Dennoch wollen einige Parteien diese verschärfen: Die Union fordert etwa: „Wenn jemand grundsätzlich nicht bereit ist, Arbeit anzunehmen, muss der Staat davon ausgehen, dass er nicht bedürftig ist. Dann muss die Grundsicherung komplett gestrichen werden.“ Auch das BSW will jenen, die Weiterbildung ablehnen, das Geld streichen, teilt es auf Nachfrage der AZ mit – bezieht sich dabei aber explizit auf junge Menschen.
Beides würde jedoch gegen das Grundgesetz verstoßen: Das Bundesverfassungsgericht urteilte 2019, dass der Regelsatz um maximal 30 Prozent gekürzt werden darf. Eine 100-Prozent-Kürzung wäre demnach illegal. Ohnehin ist unklar, wie groß überhaupt die Anzahl an „Totalverweigerern“ ist, die von einer Komplettkürzung betroffen wären.
Denn die BA erfasst diese nicht gesondert. Die Anzahl der wegen verweigerter Arbeit oder Qualifikation sanktionierten Personen lag für das Jahr 2023 allerdings nur bei rund 14.000 – das sind nicht mal ein Prozent der arbeitsfähigen Bezieher.
Die FDP fordert vage, dass bei fehlender Initiative die „Sozialleistungen Stück für Stück reduziert“ werden sollen. Wie das im Detail aussehen soll, hat die Partei auf Nachfrage der AZ nicht beantwortet.
Grüne, SPD und AfD äußern sich nicht zur Anpassung der Sanktionspolitik. Die Linke will hingegen die Mindestsicherung sanktionsfrei gestalten.
Sozialverbände halten Regelsatz für zu gering
Momentan erhalten alleinstehende Bürgergeldempfänger 563 Euro. „Ich merke, es könnte ein bisschen mehr sein“, gesteht die Leistungsbezieherin Basa. Auch Müller kritisiert den Regelsatz: „Man kann sich keine Rücklagen bilden. Es bleibt am Ende des Monats nichts übrig.“ Ersatz für die Waschmaschine oder das Brillengestell ihres Sohnes? Fehlanzeige.
Wenn wie in Müllers Fall auch noch die Karenzzeit abläuft, in der die Wohnung unabhängig von der Miethöhe behalten werden darf, reicht es erst recht nicht. In eine kleinere Wohnung umzuziehen, sei wegen der nötigen Lagerungsfläche für die Hilfsmittel ihres Sohnes nicht so einfach.

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Dass der Regelsatz zu niedrig ist, ist nicht nur ein Gefühl von Betroffenen, sondern wird auch von Sozialverbänden so gesehen. Der VdK Bayern kritisiert etwa, dass die Vorgaben für die Festsetzung des Regelsatzes „viel zu restriktiv angesetzt“ sind.
Wichtige Bedarfe könnten so nicht hinreichend gedeckt werden. „Das gilt insbesondere in einer Stadt wie München mit einer aktuellen Armutsgefährdungsschwelle von 1800 Euro“, teilt der VdK auf Anfrage der AZ mit. Der Paritätische Gesamtverband geht davon aus, dass 813 Euro als Regelsatz für Singles notwendig wären. Denn bei der Berechnung der Bundesregierung würden etwa willkürlich Verbrauchsausgaben als „nicht regelbedarfsrelevant“ ausgegeben.
Nur 1,6 Millionen Bürgergeldempfänger können tatsächlich arbeiten
Bis auf die Linke, die eine Mindestsicherung von 1400 Euro fordert, plant keine Partei, den Regelsatz anzuheben. Die AfD möchte ihn sogar senken, wie Alice Weidel bei NTV sagte. Auch die FDP möchte die Voraussetzungen dafür schaffen. Auf welchen Betrag er sinken soll, verraten die Liberalen der AZ nicht.
Die Union will das Geld zwar nicht kürzen, aber „überproportionale Erhöhungen“ wie beim Bürgergeld verhindern. Deshalb soll die jährliche Anpassungsrate der Grundsicherung verändert werden. Derzeit setzt sich diese aus Inflation (70 Prozent) und Lohnentwicklung (30 Prozent) zusammen. Wie das angepasst werden soll, beantwortete die Union der AZ nicht.
Dabei ist ein niedriger Regelsatz vor allem für jene belastend, für die ein Job nicht in Aussicht steht – wie bei Müller oder Basa. Sie erinnern daran, dass das Bürgergeld eben nicht nur eine Übergangsphase zwischen zwei Jobs ist. Von 5,6 Millionen Bürgergeld-Empfängern sind zwar theoretisch vier Millionen erwerbsfähig.
Aber 1,6 Millionen davon stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil sie sich etwa um Kindererziehung kümmern müssen oder in Ausbildung befinden, 800.000 arbeiten bereits und stocken auf.
Doch selbst von den restlichen 1,6 Millionen der vier Millionen Erwerbsfähigen, die offiziell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, können nicht alle arbeiten: etwa aus psychischen oder körperlichen Gründen (wie bei Sabine Basa), die offiziell nicht erfasst sind oder für die noch keine Diagnosen gestellt wurden.
Oder weil ihnen die passenden Qualifikationen fehlen. Und sie so trotz gefundener Arbeit bald wieder auf Bürgergeld angewiesen sind.
So viel Geflüchtete beziehen Bürgergeld
Zu den Bürgergeld-Beziehern gehören auch Geflüchtete. Allerdings erhalten nur anerkannte Geflüchtete – falls bedürftig – Bürgergeld. Wie viele es bekommen, ist statistisch nicht erfasst. Die drei größten Ausländer-Gruppen nach Staatsangehörigkeit (ohne EU) laut der Bundesagentur für Arbeit:
- Rund 700.000 Ukrainer (13 Prozent der Empfänger insgesamt).
- Rund 500.000 Syrer (neun Prozent).
- Rund 200.000 Afghanen (vier Prozent).
Mehr als die Hälfte aller Bürgergeldempfänger hat die deutsche Staatsangehörigkeit.