Politik

Bülent Mumay beschreibt, was in Erdogans Sultanat alles faul ist | ABC-Z

Vor genau 22 Jahren machte die Türkei Bekanntschaft mit der AKP-Regierung. Eine Gruppe Politiker, darunter Erdoğan, hatte nach dem Ausstieg aus der Milli-Görüş-Bewegung eine eigene Partei gegründet. Die AKP gewann bei den Wahlen im Folgejahr, am 3. November 2002, überraschend die absolute Mehrheit, die Parteien der Mitte brachen ein. Seither ist in der Türkei nichts mehr wie zuvor. Zwar waren wir vor der AKP-Regierung keine Wohlstandsgesellschaft, und unsere Demokratie glich nicht denen in Nord- und Westeuropa. Doch von dem wenigen, das wir einst hatten, ist nach 22 Jahren nichts mehr übrig. Unter dem Erdoğan-Regime hat die Türkei sich von Wohlstand und Demokratie entfernt, ebenso verfielen die Errungenschaften der 1923 gegründeten Republik. Shakespeares Satz, den er Hamlet in den Mund legte: „Etwas ist faul im Staate Dänemark“, reicht nicht aus, um Erdoğans Türkei zu beschreiben. Der Staat selbst ist faul geworden.

Unsere Hauptstadt ist Ankara, die Hauptstadt des Reichtums aber war stets Istanbul. Heute grassiert auch hier die Armut. Laut IPA Strategic Consultancy lebt eine von fünf Personen in der Stadt unterhalb der Armutsgrenze, 62,5 Prozent der Istanbuler können nicht ausreichend heizen, bei 61,7 Prozent reicht das Geld nicht für die nötige Kleidung, und 34 Prozent können sich Obst und Gemüse nicht leisten. Und das in der Türkei, die sich brüstet, ein Agrarland zu sein. Während der Konsum von rotem Fleisch in den USA und Europa auf durchschnittlich 40 Kilo pro Person gestiegen ist, ist er bei uns unter 10 Kilo gesunken. Wir sind an drei Seiten von Meer umgeben, verzehren aber nur ein Viertel der Fischmenge wie die Griechen. Und das, obwohl wir achteinhalbmal so viele Einwohner zählen wie Griechenland.

Bülent Mumayprivat

Um deutlich zu machen, wie weit wir uns von der Demokratie entfernt haben, seien Ereignisse der letzten Tage erwähnt. Der seit 29 Jahren von Istanbul aus landesweit sendende offene Kanal „Açık Radyo“, einer der liberalsten Sender in der Türkei, wurde verboten. Seine Devise lautete: „Offen für alle Stimmen, Farben und Wellen des Universums“. Das wollte die Aufsichtsbehörde RTÜK, das Zensurinstrument des Palastes, nicht länger dulden, sie schloss den Kanal, weil in einer Sendung zum Gedenktag des Völkermords an den Armeniern, dem 24. April, das Wort „Genozid“ fiel. Nicht genug damit, wurden etliche Konten von Journalisten auf der Plattform X gesperrt, darunter das von Can Dündar, der ins deutsche Exil gehen musste.

So schnell wird jemand zum Agenten

Dieser Tage steht im Parlament die Verabschiedung eines Gesetzes an, demzufolge inländische Journalisten, Wissenschaftler und alle, die sich für die Zivilgesellschaft einsetzen, zu „Agenten“ erklärt werden können. Ähnliche „Agentengesetze“ gibt es in Russland und Georgien. Dank der vagen Formulierungen darin drohen uns bis zu sieben Jahre Haft. Wer „zum Schaden der Sicherheit oder der innen- oder außenpolitischen Interessen des Staates im strategischen Interesse eines ausländischen Staates oder einer ausländischen Organisation“ eine Straftat begeht, so der Wortlaut, kann mit Haft von drei bis zu sieben Jahren bestraft werden.

Das Thema Sicherheit des Staates verstehen wir ja. Aber was bedeutet „innen- oder außenpolitische Interessen“? Da kann ja ein Journalist, der den einer Partei angehörigen Präsidenten an der Spitze des Staates kritisiert, aus „innenpolitischen Interessen des Staates“ plötzlich als „Agent“ gelten. Erst recht, wenn er für eine ausländische Zeitung schreibt wie ich für die F.A.Z. Weil das Wort „Organisation“ nicht weiter definiert ist, sind auch Wissenschaftler, die für eine ausländische NGO recherchieren, bedroht.

Menschenhandel und Drogenschmuggel

Dass wir nach 22 Jahren AKP-Regierung weniger zu essen haben und unsere Freiheit schrumpft, wissen Sie ohnehin. Wie aber die Republik, die diese Woche seit 101 Jahren besteht, im Inneren fault, wie sie von einer Demokratie zur Kleptokratie wird, wissen Sie vielleicht noch nicht. Da die Prinzipien des Rechts nicht mehr gelten, konnten regierungsnahe Kreise im Vertrauen auf Straflosigkeit den Staat aushöhlen, um unrechtmäßige Gewinne einzustreichen. Es wurde aufgedeckt, dass mit einem Dienstwagen der türkischen Botschaft in Minsk 57 Kilo Kokain nach Istanbul transportiert wurden. An den Flughäfen der Türkei benutzen Spitzenbeamte und Abgeordnete die VIP-Ein- und -Ausgänge, was sie bei sich haben, wird nicht kontrolliert.

Nun kam heraus, dass Abgeordnete der Regierungspartei auf diesem Weg kiloweise Goldbarren aus Dubai in die Türkei schmuggelten. Mithilfe eines für die Sicherheit des Landes zuständigen Generals wurden illegale Migranten aus Syrien ins Land gebracht. Ein Minister aus Erdoğans Kabinett verkaufte seinem Ministerium Produkte der eigenen Firma. Keiner wurde bestraft. Die Polizei ertappte den Kokain-Empfänger auf frischer Tat und – man ließ ihn laufen. Gegen die Gold schmuggelnden Abgeordneten wurden keine rechtlichen Schritte unternommen. Weder der im Menschenhandel tätige General noch der mit seinem Ministerium Geschäfte machende Minister müssen vor Gericht. Einer wurde pensioniert, der andere lediglich des Amtes enthoben.

Mit dem „Recht auf Hoffnung“

Schockierend ist ein vor einigen Wochen aufgedeckter Skandal: Eine Bande von Medizinern, Krankenwagenfahrern und privaten Klinikbesitzern brachte Neugeborene in Privatkliniken. Obwohl die Babys gesund waren, wurden sie auf Intensivstationen verlegt, um mehr Geld von der staatlichen Sozialversicherung zu ergattern. Mindestens zwölf Säuglinge starben, weil sie dort länger als normal lagen. Immerhin gingen bei diesem Skandal nicht alle straffrei aus. Einige Mitglieder der Bande wurden verhaftet. Die eng mit der Regierung verbundenen Verantwortlichen aber blieben unbehelligt. So gehört eine der Privatkliniken Mehmet Müezzinoğlu, der unter Erdoğan drei Jahre lang Gesundheitsminister war. Gegen ihn gab es keinerlei Schritte. Im Zeitraum, als die Taten begangen wurden, war Kemal Memişoğlu Gesundheitsdirektor von Istanbul. Jetzt ist derselbe Mann Gesundheitsminister in Erdoğans Kabinett. Und sitzt auf seinem Stuhl, als wäre nichts geschehen.

Setzt eine Gesellschaft, die verarmt und ihrer Freiheiten beschnitten ist, deren Babys aus Geldgier sterben, wohl eine seit 22 Jahren bestehende Regierung fort? Zwei Spitzenpolitiker der größten Oppositionspartei CHP, die auch mithilfe der kurdischen Wählerschaft die Wahlen gewann, haben ein Auge auf den Posten Erdoğans geworfen, der laut Verfassung nicht erneut kandidieren darf. In allen Umfragen liegen der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu und der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, vor Erdoğan. Um noch einmal zu kandidieren, muss Erdoğan entweder die Verfassung ändern oder das Parlament muss sich auflösen, sodass Neuwahlen angesetzt werden. Für beides reichen die Stimmen von Erdoğans Bündnis mit der ultranationalistischen MHP nicht aus.

Für eine Türkei ohne Erdoğan sehnen alle Parteien außerhalb des AKP-MHP-Blocks das Jahr 2028 herbei. Doch Erdoğan zaubert ein neues Kaninchen aus dem Hut, um die Opposition zu spalten: 2013 hatte er schon einmal einen Friedensprozess mit der PKK eingeleitet, die Verhandlungen aber 2015, als er merkte, dass ihn dies Stimmen kostet, abgebrochen und war mit der MHP weitermarschiert. Kurdische Politiker wurden verhaftet, gewählte Bürgermeister durch Zwangsverwalter ersetzt. Nun rührt er einen neuen Friedensprozess an, um seine Regierung fortzusetzen. Und benutzt dazu auch noch MHP-Chef Devlet Bahçeli, der für Hassreden gegen Kurden bekannt ist. Kürzlich appellierte der Nationalistenführer im Parlament an den zu lebenslänglicher Haft verurteilten Chef der Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan, er solle vor dem Parlament erklären, dass der Terror vorbei und die Organisation aufgelöst sei. Dann könne er mit dem „Recht auf Hoffnung“ freikommen.

Eine neue Friedenspfeife?

Auf Kundgebungen hatte Bahçeli früher eine Schlinge geschwenkt, die Hinrichtung des PKK-Chefs und ein Verbot der von Kurden gegründeten Parteien gefordert; das Verfassungsgericht wollte er schließen lassen, weil es dieser Forderung nicht nachkam. Warum macht er jetzt diesen Vorstoß? Nicht bloß, um Erdoğan die Wiederwahl zu sichern und die Kurden auf seine Seite zu ziehen. Indem die MHP sich mit Erdoğan verband, ist sie nicht nur Partner der Regierung, sondern des Staates geworden. Sie hat eigene Leute in Justiz und Sicherheitsverwaltung eingesetzt.

Mit seinem Appell geht es Bahçeli darum, diese politische Macht zu wahren. Und die damals von Erdoğan getäuschten Kurden, werden sie eine neue Friedenspfeife anzünden? Erdoğan hat sie, wie alle demokratischen Kräfte, plattgewalzt. Werden sie wegen Zugeständnissen wie der Freilassung Öcalans dieses Regime verlängern? Es ist noch lange hin bis zu den Wahlen 2028. Und, wie der große türkische Politiker Süleyman Demirel einst sagte: „In der Politik sind 24 Stunden eine lange Zeitspanne.“ Warten wir ab, wie die kurdischen Politiker reagieren.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

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