Brücke von Messina: Unüberbrückbare Differenzen | ABC-Z

A n der Küste von Torre Faro reihen sich alte Fischerhäuser und Cafés mit bunten Holzstühlen aneinander. Dahinter blitzt das dunkelblaue Meerwasser hervor. Und die Hügel Kalabriens, die südlichste Region des italienischen Festlandes. Torre Faro ist ein Teilort der Hafenstadt Messina auf Sizilien. Nirgends ist der Abstand der Insel zum Festland so gering wie dort. Nur knapp drei Kilometer ist der sogenannte Stretto di Messina, die Meerenge zwischen Sizilien und Kalabrien, an der Stelle breit.
Inmitten der malerischen Gassen von Torre Faro soll bald ein 400 Meter hoher Betonpfeiler in die Höhe ragen und den kleinen Küstenort in seinen Schatten stellen. Er soll die Brücke tragen, die Sizilien künftig mit dem italienischen Festland verbinden soll – das Prestigeprojekt der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Die Brücke soll die stagnierende Wirtschaft im Süden ankurbeln und das Pendeln erleichtern. Wer Sizilien aktuell per Land erreichen will, muss nämlich die Fähre nutzen. Etwa 50 Mal am Tag fahren Autos und Fußgänger darauf hin und her. Die Überfahrt dauert 20 Minuten, doch spätestens in der Hochsaison sind die Häfen überlastet. Das liegt auch an den Zügen, die die Fähren transportieren. Denn diese sind zu lang für die Schiffe. Waggon für Waggon muss deshalb nebeneinander aufgereiht werden. Messina versinkt derweil in kilometerlangen Staus. Und im Smog.
Italienische Regierungen diskutieren seit über 60 Jahren den Bau einer Brücke über dem Stretto. Umsetzen konnte sie bislang keine. Denn die Hürden sind groß. Unter der Meerenge von Messina treffen die eurasische und die afrikanische Erdplatte aufeinander. Dadurch liegt die 32 Kilometer lange Meerenge mitten im Erdbebengebiet. Immer wieder kommt es zu Erschütterungen.
Die längste Hängebrücke der Welt
Im Stretto treffen zudem zwei Meere aufeinander, das Tyrrhenische Meer im Norden und das Ionische Meer im Süden. Dadurch entstehen starke Windböen. Diese können Schätzungen der italienischen Regierung zufolge Geschwindigkeiten von über 270 Kilometern pro Stunde erreichen. Ingenieure stellt das vor große Herausforderungen. Und auch Klimaaktivisten wehren sich seit Jahren gegen den Bau einer Brücke. Denn die Tierwelt der Meerenge ist in großen Teilen geschützt.
Trotz aller Hürden kam Anfang August dann die Nachricht: Die italienische Behörde Cipess, die für größere Investitionsprojekte im Land zuständig ist, hat den Bau der Brücke genehmigt. Der Entwurf sieht Maße der Superlative vor: Mit einer Länge von 3,3 Kilometern wäre die Brücke über dem Stretto die längste Hängebrücke der Welt. Gestützt werden soll sie von zwei Betonpfeilern. Einer davon soll auf Sizilien stehen, in Torre Faro, der andere in Kalabrien. Die Brücke soll über 60 Meter breit werden. Darauf sollen sich sechs Spuren erstrecken, auf denen nicht nur Autos, sondern auch Züge in Hochgeschwindigkeiten zwischen Insel und Festland hin- und herfahren können. Den ursprünglichen Plan, auch Fußgänger die Brücke passieren zu lassen, verwarf die Regierung inzwischen aufgrund der starken Winde.
Insgesamt 13,5 Milliarden will sich Italien die Brücke kosten lassen. Der Bau sollte den Angaben zufolge noch diesen Herbst starten und 2032, also in sieben Jahren, fertig sein. Gebaut wird zwar noch nicht – doch der Protest formiert sich längst. Für den Bau sollen fast 450 Immobilien auf Sizilien enteignet werden, fast 300 davon sind Wohnhäuser. Weitere 150 sind es in Kalabrien.
Daniele Ialacqua steht in seiner Küche in Torre Faro, dem kleinen Küstenort nördlich von Messina. Der 60-Jährige unterrichtet Recht und Gemeinschaftskunde – und kämpft gegen den Bau der Brücke. Er trägt ein türkises Polohemd. Ialacqua hat Glück: Sein Haus soll nicht für den Bau der Brücke abgerissen werden. Das seiner Nachbarn allerdings schon. Bis an Ialacquas Hauswand sollen Gebäude enteignet werden, damit auf der frei gewordenen Fläche der riesige Pfeiler der Brücke aufgerichtet werden kann. Ialacquas Haus würde dann in wenigen Jahren im Schatten des Stützpfeilers stehen.
Deshalb hat der Lehrer die Protestgruppe „Comitato No Ponte di Messina Capo Peloro“ ins Leben gerufen – das „Komitee gegen die Brücke über die Meerenge von Messina“. 300 Anwohner haben sich ihm inzwischen angeschlossen, erzählt er. Den meisten drohe die Enteignung. Für den Protest hat Ialacqua das ehemalige Postgebäude in Torre Faro umgestaltet. Die Protestgruppe nennt das Zentrum „Casa Cariddi“, benannt nach einem Meeresungeheuer, das in der griechischen Mythologie in der Meerenge von Messina gelebt haben soll. Es liegt zentral in der Hauptstraße, die an den Strand führt. Steht man davor, sieht man die Meerenge von Messina im Augenwinkel. Jeden Abend ist das Zentrum für die Bewohner:innen geöffnet.
„Hier lassen wir unsere Wut aus“
Ialacqua hat die verschiedensten Daten zur geplanten Brücke zusammengetragen und in dem Zentrum zur Schau gestellt. An den Wänden hängen Plakate mit Skizzen der Brücke und Diagrammen. Auf einem Tisch, der in der Mitte des Raumes steht, liegt eine Mappe von Torre Faro. In Pink, Grün, Gelb und Orange hat Ialacqua darauf die Häuser eingefärbt, die für die Brücke abgerissen werden sollen. Daneben liegt eine Dartscheibe, darauf ein zerlöchertes Bild der geplanten Brücke. „Hier lassen wir unsere Wut aus“, sagt der 60-Jährige.
Er kritisiert den Umgang des italienischen Staates mit den Anwohnern. „Per Gesetz muss der Staat nur über Enteignungen informieren, wenn es weniger als 50 Anwohner betrifft“, sagt Ialacqua. Deshalb hätten viele Betroffene in Torre Faro erst durch die Nachrichten oder andere Betroffene erfahren, dass sie ihr Zuhause verlieren könnten. Laut dem italienischen Verkehrsminister Matteo Salvini sollen die enteigneten Anwohner mit insgesamt 300 Millionen Euro kompensiert werden. „Ein Zuhause ist aber unbezahlbar“, sagt Ialacqua. Beim Großteil der Enteignungen handle es sich zudem um Erstwohnungen. „In Torre Faro gibt es Neubaugebiete, dort leben viele Familien, die erst vor 20 Jahren eingezogen sind.“
Ein Argument, mit dem Melonis Regierung die Brücke verteidigt, ist die Entstehung von Arbeitsplätzen. Diese braucht der Süden Italiens. Gerade auf der Insel Sizilien ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie kaum woanders in der Europäischen Union (EU). Junge Menschen, auch hochspezialisierte, wandern entweder in den Norden oder ins Ausland ab. Neusten Zahlen zufolge soll der Bau und Betrieb der Brücke 120.000 Arbeitsplätze bringen. Daniele Ialacqua glaubt jedoch nicht daran. „Das ist Propaganda“, sagt der 60-Jährige. Unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi sei 2011, als der Bau der Brücke erstmals konkret wurde, noch von 40.000 Arbeitsplätzen die Rede gewesen, sagt Ialacqua. Später unter Matteo Renzi dann von 100.000. „Nirgends steht transparent, wofür diese Arbeitskräfte benötigt werden.“
Der Anwohner befürchtet, dass durch die Brücke sogar Arbeitsplätze verloren gehen könnten. „Rund um die Fähren arbeiten gerade 2.000 Menschen“, sagt Ialacqua. Für Menschen aus Messina seien die Reedereien einer der Hauptarbeitgeber. „All diese Jobs würden von heute auf morgen verloren gehen.“ Das Problem der fehlenden Arbeitsplätze, die stagnierende Wirtschaft, die Staus und der Smog – all das könnte der Staat laut Ialacqua lösen, indem er mehr Fährlinien einsetzt. „Messina hat eine jahrhundertelange Tradition auf dem Wasser“, sagt er. „Nimmt man der Stadt die Fähren, nimmt man ihr das Leben.“
Ein Mittwoch Anfang September. Anna Giordano ist aus Messina nach Torre Faro gefahren. Die 60-Jährige besucht den Ort regelmäßig, um Zugvögel zu beobachten. Giordano ist Umweltaktivistin. Seit ihrer Kindheit setzt sie sich gegen Wilderei im Stretto von Messina ein. Sie arbeitete bereits für den WWF, die EU und für das italienische Umweltschutzministerium. 2021 wurde Giordano in Italien als Umweltschützerin des Jahres ausgezeichnet.
Die Aktivistin befürchtet massive Folgen für die Natur in der Meerenge von Messina. „Der Stretto ist eines der meisterforschten Gebiete“, sagt sie, „die Natur dort ist einzigartig“. Die Auswirkungen, die die Brücke auf diese hätte, bezeichnet sie als verheerend. Ein Beispiel dafür bieten Zugvögel. Sie überqueren das ganze Jahr über die Meerenge auf ihrem Weg von Afrika nach Europa und zurück. „Es sind eben nicht ein paar einzelne, wie die Regierung gerne mal behauptet, sondern mehrere Millionen jedes Jahr“, sagt Giordano. Da die Fahrspuren in über 60 Meter Höhe verlaufen würden, ist das Risiko, dass die Vögel mit der Brücke zusammenprallen könnten, hoch.
Ein weiteres Problem sei das fehlende Wasser auf Sizilien. „Messina liegt am Meer, aber in der Stadt gibt es zu wenig Wasser“, sagt Giordano. Der Grund sei die veraltete Kanalisation. „Es muss nur einmal stark regnen, da laufen die Gullydeckel schon über“, sagt die Umweltschützerin. Wenn das Wasser dann in die teils brüchigen Rohre gelange, versickere ein großer Teil darin. „In Messina fehlt das Wasser schon für den täglichen Bedarf“, sagt Giordano, geschweige denn, um Tausende Tonnen Beton anzumischen. „Es ist schlicht kein Wasser da, um so eine große Baustelle zu versorgen.“
Hinzu kommt das hohe Erdbebenrisiko. Giordano verweist auf die Naturkatastrophe von 1908. Damals machte das bislang stärkte Erdbeben in der Region weite Teile Messinas und Kalabriens dem Erdboden gleich. Rund 100.000 Menschen starben dabei. Das Erdbeben hatte eine Stärke von 7,2 auf der Momenten-Magnituden-Skala.„So starke Erschütterungen gab es seitdem nicht mehr“, sagt Giordano, „aber es gibt keine Glaskugel, die vorhersagt, wann es wieder so weit ist.“
Skeptischer Blick auf Melonis Brücke
Die Zweifel der Umweltschützer und Anwohner teilen viele Sizilianer. Sie blicken skeptisch auf Melonis Brücke. Zu oft wurde das Projekt in Wahlkämpfen beworben, angegangen und dann wieder verworfen. Aber nicht alle sind dagegen: Ein Teil der Sizilianer befürwortet den Bau. Denn die Insel leidet unter chronischer Unterfinanzierung. Seit Jahrzehnten investieren italienische Regierungen in den Norden des Landes. In den norditalienischen Regionen Lombardei, Venetien und Ligurien sitzt der Großteil der italienischen Industrie.
Die Infrastruktur ist entsprechend ausgebaut. Ein Beispiel: Der Hafen von Genua ist der größte Seehafen Italiens. Er dient als zentraler Knotenpunkt für Frachtschiffe, Fähren und Kreuzfahrtschiffe aus der ganzen Welt. Der Süden des Landes hingegen lebt überwiegend von der Landwirtschaft, im Sommer zudem vom Tourismus. Die Straßen sind vielerorts brüchig, gerade auf dem Land. Das Schienennetz ist lückenhaft oder in Teilen stillgelegt. Für Strecken, die im Norden in einer Stunde zurückgelegt werden können, braucht es auf Sizilien oft mindestens zwei.
Mit dem Bau der Brücke will die italienische Regierung auch die Infrastruktur im Süden ausbauen: Bis zur Fertigstellung der Brücke im Jahr 2032 will der Staat insgesamt 70 Milliarden Euro in die Straßen und Schienen Siziliens und Kalabriens investieren. Auch die EU fördert den Ausbau des Schienennetzes. Für die Modernisierung der 178 Kilometer langen Bahnstrecke zwischen Palermo und Catania hat die Europäische Kommission etwa 3,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dadurch sollen die beiden Städte direkt per Gleis miteinander verbunden und die Fahrzeit von drei auf zwei Stunden verkürzt werden.
Für Daniele Ialacqua aus Torre Faro sei das der richtige Schritt, um die Region wirtschaftlich voranzubringen – nicht die Brücke. „Wir brauchen zuallererst eine Verbesserung der bereits bestehenden Infrastruktur“, sagt er. Dass die Brücke den erwarteten Aufschwung bringt, glaubt er nicht. „Sonst würde es der Region Kalabrien, die ja direkt ans europäische Festland angebunden ist, nicht genauso schlecht gehen wie uns.“
Ein Anruf bei Aurora Notarianni. Die 62-Jährige aus Messina ist eine der bekanntesten Anwältinnen in Italien. Notarianni bezeichnet sich selbst als „eine der Alten“ in der Protestbewegung. Sie beobachtet die Pläne rund um die Brücke seit Jahrzehnten. Notarianni vertritt ehrenamtlich Umweltorganisationen vor Gericht, darunter den WWF in Italien. Im August hat sie gemeinsam mit anderen italienischen Umweltorganisationen eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission gegen die Brücke eingeleitet. Eine konkrete Antwort auf diese gibt es bislang nicht.
Notarianni fürchtet eine Verschwendung öffentlicher Gelder. Sie glaubt nicht, dass es bei den geplanten Kosten von 13,5 Milliarden Euro bleiben wird. Tatsächlich gibt es schon jetzt Schätzungen, die rund 1 Milliarde Euro Mehrkosten vorsehen. „Der Bau soll sieben Jahre dauern, und das ist schon sehr optimistisch geschätzt“, sagt Notarianni. Kosten würden in dieser Zeit steigen, erst recht, wenn sich der Bau verzögert.
Die Anwältin bezweifelt, dass das Projekt jemals fertiggestellt wird. „Die Brücke ist einfach nicht realisierbar“, sagt sie. Notarianni befürchtet, dass das Vorhaben an den logistischen Hürden scheitert. Und dass Italien mit zwei Riesenbaustellen und einem Loch in der Kasse zurückbleibt.
Einer der Hauptkritikpunkte der Brückengegner ist der potentielle Einfluss der organisierten Kriminalität. Sizilien gilt mit der sogenannten Cosa Nostra als Mafia-Hotspot, ebenso wie Kalabrien mit der sogenannten ’Ndrangheta. Kritiker befürchten, dass sich die Mafien in die Vergabe von Bauaufträgen einmischen und Korruption fördern könnten. Beispiele aus der Vergangenheit begründen die Sorge: Nach dem verheerenden Erdbeben von 1980 in Kampanien infiltrierte die neapolitanische Mafia, die sogenannte Camorra, etwa Baufirmen in den Wiederaufbau der Region und sicherte sich somit staatliche Fördergelder. Beim Bau der Autobahn A20 zwischen Palermo und Messina sollen ebenfalls Aufträge an Firmen vergeben worden sein, die von der sizilianischen Cosa Nostra kontrolliert wurden.
Und auch in Bezug auf die Brücke besteht der Verdacht, dass die organisierte Kriminalität mitspielt. Noch bevor der Bau überhaupt begonnen hat, laufen bereits Ermittlungen gegen den Staatsanwalt Michele Prestipino, der für die Ermittlungen gegen die Cosa Nostra und die kalabrische ’Ndrangheta zuständig ist. Letztere gilt als mächtigste Organisation Europas. Laut Anklage soll er vertrauliche Informationen an den Präsidenten des Unternehmenskonsortiums Eurolink weitergegeben haben, das mit dem Bau der Brücke über die Meerenge beauftragt ist.
Wie viele Sizilianer bezweifelt Anwältin Notarianni, dass die Brücke jemals zu Ende gebracht wird. Und dass die Bauarbeiten pünktlich beginnen. Auch Anwohner Daniele Ialacqua glaubt nicht daran. Verkehrsminister Salvini kündigte den Baustart für September oder Oktober an. Doch Mitte Oktober blitzt das Meer noch immer hinter den alten Fischerhäusern hervor. Baustellen gibt es hier bislang keine.





















