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Bruce Springsteen veröffentlicht seine „Lost Albums“ | ABC-Z

Zugegeben, vielerorts und auch in der F.A.Z. war zuletzt sehr oft von Bruce Springsteen die Rede. Aber während seine Europatournee noch läuft und schon regelmäßig Ausblicke auf den Spielfilm „Deliver Me From Nowhere“ gegeben werden, den Scott Cooper über Spring­steens Lebensgeschichte gedreht hat (Kinostart im Oktober), ist jetzt auch eine musikalische Veröffentlichung anzuzeigen, an der man einfach nicht vorbeikommt.

Es handelt sich dabei um ein Box-Set aus sage und schreibe sieben „Alben“, die Bruce Springsteen zwischen 1983 und 2018 aufgenommen hat. Wobei der Albumbegriff vielleicht deshalb in Anführungsstriche zu setzen ist, weil nicht alle davon ein geschlossenes Konzept erkennen lassen, sondern teils nur ausufernde Session-Aufnahmen abbilden. Die Stücke ähneln sich bisweilen auch stark und haben es letztlich ja eben nie auf ein tatsächliches Album geschafft – die Gründe dafür mögen unterschiedliche sein.

Die Songs entstanden bei einsamen Motorradausflügen

Damit ist man bei der notwendigen Frage angesichts solcher Kompilationen für Liebhaber: Braucht man sie wirklich? Bei manchen anderen Musikern, deren Namen wir jetzt nicht nennen wollen, scheint das Zusammenkratzen noch des letzten unveröffentlichten Materials teils beliebig und tatsächlich überflüssig.

Bei Springsteen liegt der Fall anders, und in seinen Raritäten-Nachveröffentlichungen ist oft wirklich etwas zu entdecken. 1998 hatte er eine erste Sammlung abseitiger „Tracks“ herausgebracht, daher heißt die nunmehr vorliegende „Tracks II“. Damals waren es 66 Stücke, nun sind es 83. Der Sänger selbst weist mit der Äußerung, einige der Werke hätten „kurz davor gestanden, abgemischt zu werden“, schon auf den „Demo“-Charakter der Aufnahmen hin. Das betrifft etwa gleich die ersten aus den sogenannten „L.A. Garage Sessions“ von 1983. Damals hatte Springsteen gerade das introvertierte Album „Nebraksa“ (1982) veröffentlicht, das er großteils allein in seinem Schlafzimmer aufgenommen hatte. Danach war er von der Küste New Jerseys vorübergehend nach Südkalifornien gezogen. Im Begleitmaterial wird beschrieben, dass er dort keineswegs Anschluss an irgendeine Szene suchte, sondern einsame Motorradausflüge in den San Ga­briel Mountains oder auf dem Pacific Coast Highway machte.

Was er in der Garage machte

Er kaufte sich dann ein Haus und richtete sich in der Garage ein Studio ein, in dem er bald ständig mit seinem Gitarrentechniker Mike Batlan herumprobierte – weiter in der minimalistischen Art von „Nebraska“, mit viel Hall auf dem Gesang und spärlichen Arrangements, ab und zu angewärmt durch die später charakteristische Orgel. In diesen Sessions mischen sich Einflüsse von altem Rock ’n’ Roll („Don’t Back Down On Our Love“) mit Balladen im Folkstil, immer gefärbt durch Spring­steens melancholischen Gesang („Richfield Whistle“, „Jim Deer“). Oft geht es um heruntergekommene Orte und Geisterstädte, und noch dramatischer wird es in dem Lied „The Klansman“. Es ist aus der Perspektive eines Jungen gesungen, dessen Bruder und Vater Mitglieder des Ku-Klux-Klans sind.

Obwohl es sich also um gutes Material handelte, bog Springsteen letztlich ganz anders ab und veröffentlichte 1984 nebst E Street Band mit „Born in the U.S.A.“ eine krachende, in Teilen viel optimistischere Rock-Platte, die seine mit Abstand erfolgreichste wurde. Aber das Garagenmaterial bezeichnet er nun als „kritische Brücke“ dorthin. Über diese geschafft hat es ein heute sehr bekanntes Stück, nämlich „My Hometown“, dessen Niedergangsmelodie inzwischen so viele andere Orte auf der Welt zu singen wissen. Hatte man bislang nur registriert, dass es zwischen vielen euphorischen Hitsingles von „No Surrender“ bis zu „Bobby Jean“ dort etwas quersteht, versteht man nun besser, wo es herkommt.

Ein Sprung durch die Epochen

Die weiteren „Lost Albums“ bauen nicht alle solche Brücken – manche eröffnen vielmehr ganz neue Kolonien in Springsteens stilistischem Kosmos. Das Werk „Inyo“ aus den späten Neunzigern etwa keimte auf weiteren Motorradtrips, diesmal Richtung Mexiko, und enthält daher Mariachi-Musik und klassische mexikanische Balladen wie „Adelita“.

„Faithless“, um 2004 entstanden, ist der Soundtrack eines „spirituellen Westerns“, der letztlich nie gedreht wurde. Springsteen erklärt dazu lustigerweise, er habe in Hollywood bemerkt, dass man für sehr lange Phasen des „developments“ von Stoffen einfach von der Bildfläche verschwinden könne.

Als bewege man sich durch ein Paralleluniversum

Er selbst hat, wie diese so manche zeitliche Lücke seiner bisher bekannten Werkgeschichte schließenden Aufnahmen zeigen, wohl nie so recht stillgestanden. Zu seinen erstaunlichsten Experimenten zählen jene im Elektropop, mit denen man in Gestalt des Songs „Streets of Philadelphia“ mit seinem Drumcomputer-Beat ansatzweise vertraut war, nun aber erkennt, dass es dazu eine ganze Session gibt, mit lauter klangästhetisch verwandten Stücken – sehr zu Herzen gehend darunter etwa „Between Heaven and Earth“.

DSGVO Platzhalter

Immer wieder hat man beim Durchhören der vorliegenden Kompilation den Eindruck, man bewege sich durch ein Paralleluniversum zu Springsteens regulär veröffentlichtem Werk: Es tauchen Motive, Namen von Orten und Menschen, sogar Textzeilen auf, die man aus anderen Liedern schon kennt und die hier ein anderes Leben führen, eine andere Funktion erfüllen.

Wie es manchmal in Kunst und Musik passiert, ist der größte Schatz dieses Box-Sets nebenbei entstanden, aus Lust und Laune heraus: An den Nachmittagen der Aufnahmen zu Springsteens regulärem Album „The Ghost of Tom Joad“ (1996) nämlich, das auf John Steinbecks und Woody Guthries Spuren der Folktradition folgt, hat er ein regelrechtes Parallelwerk im Countryrock-Genre aufgenommen. „Somewhere North of Nashville“ ist es nun getauft, und dieses Album ist so phantastisch stilsicher, dass man gar nicht versteht, warum es damals nicht erschienen ist. Springsteen wollte seine Fans wohl auch nicht zu sehr verwirren, deutet er an. Der Boss singt hier wie der King: Er macht Elvis alle Ehre bei Hüftschwinger-Nummern wie „Delivery Man“. Und fast schon lustige Zeugen seines Experimentierens in Elvis-Manier sind auch die klanglich fast identischen Stücke „Repo Man“ (mit phantastischem Pedal-Steel-Solo) und „Detail Man“. Aber der Teufel steckt auch bei ihrem Vergleich im Detail.

Bruce Springsteen: „Tracks II: The Lost Albums“. Box-Set aus 9 LPs oder 7CDs. Sony Music Catalog (Sony)

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