Bronze: erste WM-Medaille für Straßer. – Sport | ABC-Z

Das Phänomen des Einfädlers hat jeden Slalomfahrer dieser Welt schon heimgesucht, sei er noch so erfolgreich und nah an der Perfektion. Es liegt im Wesenskern dieser Disziplin, die immer rasanter geworden ist. Den besten deutschen Slalomfahrer Linus Straßer hat es natürlich auch schon ereilt. Nach einem Einfädler sollte man Straßer im Zielraum besser nicht begegnen oder gar eine Frage stellen. Aber diesmal, im Finale der Ski-WM von Saalbach-Hinterglemm, da führte ausgerechnet ein Einfädler zum bittersüßen Abgang.
Straßer war bereits zum zweiten Mal unten angekommen, im Ziel hatte es grün aufgeleuchtet, deutsche Flaggen wirbelten durch die Luft, und während Straßer ins Stadion fuhr, hob er die Hand in Richtung Publikum, den Zeigefinger nach oben, wie ein Signal an alle Skeptiker. Die Zähne des Skilöwen sind noch immer spitz. Gewonnen hatte Straßer in diesen Momenten noch gar nichts. Aber der Mann vom TSV 1860 München wirkte so, als habe er so eine Ahnung.
Für Straßer ging es an diesem finalen Tag der Ski-WM im Glemmtal um mehr als um eine WM-Medaille. Im Saalbacher Stadion schwang noch viel mehr mit, der gesamte Deutsche Skiverband (DSV) bangte um seinen eigenen Anspruch, eine Medaillennation zu bleiben. Verfehlt auch noch Straßer die Medaille, würde der DSV erstmals seit den Wettkämpfen in Are 2007 ohne Podestplatzierung ausgehen. Und nun, da Straßer auf dem Schleudersitz Platz nahm, konnte er der Konkurrenz nur noch beim Skifahren zusehen. Und so kam es zum größtmöglichen sportlichen Drama, das die Disziplin Slalom zu bieten hat.
Straßer, Fünfter nach Durchgang eins, hatte einen Platz gut gemacht, der Norweger Timon Haugan rutschte hinter den Münchner. Doch Haugans Teamkollege Atle Lie McGrath und der Schweizer Loïc Meillard brachten ihre Finalfahrten noch rasanter als Straßer ins Ziel. Oben stand nun nur noch der Franzose Clément Noël, der in Lauf eins alle anderen düpiert und in diesem Winter oft bewiesen hat, dass er mit dem Druck umgehen kann. Diesem Druck, den nur kennt, wer schon mal in Führung liegend als Letzter das Starthäuschen betreten hat. In diesen Momenten wirkt dieses Häuschen monumental schwer. So schwer, dass es manchen erdrückt hat.
Die 15 000 im Stadion ließen die Tribünen wackeln. Alle Augen gingen hinauf, wo nun einer der Weltbesten der vergangenen Jahre durch die Tore kurvte. Der Weltbeste? Nach zwei Drittel dieses mit 68 Stangen überlangen Slalomrennens lag der Franzose noch klar vor Straßer, um Meillard und McGrath zu bezwingen, musste der 27-Jährige jetzt wohl noch mal ins Risiko gehen. Das machte er auch. Und dann geschah, was einem Slalomfahrer niemand wünscht, nicht jetzt, nicht in dieser Situation. Kurz vor dem Zielstrich fädelte der Franzose ein und schied aus. Während Noël in den Katakomben verschwand, durfte Straßer über seine erste WM-Einzelmedaille jubeln.
Gegen Skifahrer aus der Schweiz war keine Kräuterkraft von dieser Welt gewachsen
„Das Glück war heute sicherlich auch etwas auf meiner Seite, dass der Clément Noël da einfädelt“, erklärte Straßer später im Stadion. „Aber das gehört auch zum Slalom dazu.“ Er hätte Noël lieber auf konventionelle Weise bezwungen als so. „Es ist bitter für ihn, aber als Olympiasieger und vierfacher Weltcupsieger in diesem Winter kann er es, glaube ich, verkraften.“
Sportliche Erkenntnis dieser Ski-WM: Gegen Skifahrer aus der Schweiz war keine Kräuterkraft von dieser Welt gewachsen. Das musste auch Straßers Teamkollegin Lena Dürr vom SV Germering feststellen. Die hatte es zur Stärkung der Abwehrkräfte mit selbst gemachten Ingwer-Shots versucht, dieser krautigen Wurzel, die unterirdisch wächst – die am Samstag aber nicht jene überirdischen Kräfte freisetzte, die Lena Dürr für höhere Weihen benötigt hätte.
Dürr, vor zwei Jahren in Méribel noch umjubelte WM-Dritte, in diesem Winter schon einmal Zweite und zweimal Dritte im Weltcup, wurde am Ende Tages-Achte – und musste der überlegenden Schweizerin Camille Rast zum Weltmeistertitel gratulieren. Zweite wurde Wendy Holdener (0,46 Sekunden zurück), ebenso aus dem Team Schweiz, das inzwischen zwölf Medaillen geholt hat. Bronze ging an die Österreicherin Katharina Liensberger (1,32), die zwei beziehungsweise vier Hundertstelsekunden vor den US-Amerikanerinnen Paula Moltzan und Mikaela Shiffrin landete.
Im Zielgetümmel nahm Dürr den achten Platz hin, was blieb ihr auch anderes übrig. Sie sei gesundheitlich angeschlagen gewesen, das solle aber keine Ausrede sein: „Heute bin ich nicht so zurechtgekommen“, erklärte sie. Nach Straßers Erfolg am Sonntag revidierte DSV-Alpindirektor Wolfgang Maier sein Resümee vom Vortag. „Unser Ziel war, zwei Medaillen zu gewinnen, das haben wir definitiv nicht erreicht“, so Maier. Die Leistungen von Straßer, Emma Aicher oder Anton Grammel würden aber auch Anlass zu positivem Denken geben.
Es bleibt ein verstohlener Blick zum Schweizer Haus, wo sie mit dem Medaillenzählen gar nicht mehr hinterherkommen. Marco Odermatt hatte zu Beginn der WM erklärt, dass die Nachwuchsarbeit in der Schweiz der Hauptgrund sei, dass die Schweizer Skigilde Nationen wie Deutschland in der Spitze und Breite so weit enteilt sei. Und man muss dazusagen, dass die Schweizer auch deutlich mehr Schnee, Berge und überhaupt gewachsene Alpinstrukturen haben, was helfen dürfte, um junge Leute zum Skifahren zu motivieren.