Bosniens Nationalcoach Sergej Barbarez: Vom Schützenkönig zum Spieleraugendeuter – Sport | ABC-Z
Es gibt Träume, auf die man wartet, manchmal jahrelang. Für Sergej Barbarez, 53, geht nun einer in Erfüllung. Im vergangenen April willigte er ein, als Nationaltrainer von Bosnien-Herzegowina einzusteigen – im Wissen, dass ihn die halbe Welt für verrückt erklären würde. „Mit Spielen in England, Italien und den Niederlanden loszulegen – kein normaler Mensch hätte das getan“, behauptet er. Und gaben die Ergebnisse nicht jenen recht, die Barbarez mitleidig belächelt hatten? In England setzte es bei seinem Trainerdebüt ein 0:3, bei einem weiteren Testspiel in Italien ein 0:1, ehe in der Nations League bei den Niederländern eine weitere Ernüchterung folgte: 2:5. Gegen Ungarn gelang danach ein 0:0, immerhin. Jetzt aber: der Traum. Weil in Zenica am Freitagabend das Heimdebüt für Barbarez ansteht. Weil es gegen Deutschland geht – ein Land, das er Heimat nennt. Und weil der DFB-Tross von Rudi Völler angeführt wird, der Barbarez einst als Bayer-Manager nach Leverkusen lotste, wo jener dann 2008 seine Karriere beendete, nach 95 Toren in 330 Bundesligaspielen, die meisten davon für seinen geliebten Hamburger SV.
Damals schon schien Barbarez prädestiniert zu sein für den Job, den er erst jetzt übernahm. Dass es seinerzeit nicht klappte, sei politischen Ränkespielen geschuldet gewesen, die ihn stets angewidert hatten, sagt er. Dass er auch nie eine Klubmannschaft als Trainer übernahm, habe an anderen Arten der Unehrlichkeit gelegen, der Fußball sei nicht mehr das, was er mal war. Und sich eines Jobs wegen zu verbiegen, kam für ihn nie infrage. Er habe sich die Zeit als Privatier (und TV-Kommentator) leisten können – und sie genossen: „Ich bin kein Ja-Sager, sondern gehe meinen eigenen Weg“, sagt Barbarez am Telefon.
Dieser Weg brachte es mit sich, als neuer Bosnien-Coach einen Richtungswechsel einzuschlagen, eine Verjüngung des Teams. Sein elfköpfiger Trainerstab kommt auf rund 300 Länderspiele. Der gesamte Kader, den er für die Partien gegen das DFB-Team und gegen Ungarn (Montag) berief, landet hingegen nur deshalb bei knapp 400 Länderspielen, weil Stürmer Edin Dzeko, mittlerweile 38 und bei Fenerbahce in der Türkei aktiv, schon 136 Mal für Bosnien im Einsatz war. Der Rest? Fast ausnahmslos Rookies.
Der Bruch mit der Vergangenheit war notwendig, glaubt Barbarez: „Die letzten Jahre waren nicht einfach, um nicht zu sagen: katastrophal.“ Ab Januar 2023 versuchten sich der frühere Defensiv-Mann Faruk Hadzibegic sowie die Offensiv-Legenden Meho Kodro und Savo Milosevic an Bosniens Team. Als der WM-Teilnehmer von 2014 die Qualifikation für die EM 2024 verspielt hatte und auf Platz 74 der Fifa-Weltrangliste abgestürzt war, kam Barbarez.„Überraschend, sehr überraschend“ sei das für ihn gewesen.
Viele seiner Spieler sind in Deutschland aktiv – aber nicht alle in der ersten Liga
Er selbst habe bei der Anfrage durch den Verband Begeisterung wahrgenommen – aber instinktiv „die Handbremse betätigt“ und mit dem Ja-Wort gezögert: „Ich musste mir sicher sein“. Er war es am Ende. Er verbringt nun mehr Zeit in Bosnien als früher, manchmal auch, um sich Ligaspiele anzuschauen. Zum aktuellen Kader gehört allerdings nur ein Spieler, der in Bosnien spielt, der Ersatztorwart Osman Hadzikic von Velez Mostar. Der Rest ist in der Türkei beschäftigt, in Kroatien, Italien, den Niederlanden – oder recht zahlreich, wie einst Barbarez selbst, in Deutschland.
Nicht alle der aktuellen Deutschland-Legionäre spielen erstklassig, nur Torwart Nikola Vasilj (St. Pauli), Mittelfeldspieler Armin Gigovic (Kiel) sowie die Stürmer Haris Tabakovic (Hoffenheim) und Ermedin Demirovic (Stuttgart). In Ermin Bicakcic (Braunschweig), Dzenis Burnic (Karlsruhe) und Denis Huseinbasic (Köln) hat Barbarez auch Zweitligaspieler dabei. Sie sind noch weit davon entfernt, so erfolgreich zu sein wie Barbarez einst selbst. 2001 wurde er gemeinsam mit dem Schalker Ebbe Sand Bundesliga-Torschützenkönig, eine Zeit lang wurde sogar darüber debattiert, ihn einzubürgern. Für den DFB aufzulaufen, war für ihn aber ausgeschlossen. Sein Geburtsland Bosnien sollte es sein, das erst 1996 sein erstes Länderspiel austrug. „Wenn man mich nach den schönsten Momenten meiner Karriere fragt“, erzählt Barbarez, „sage ich immer: jedes einzelne meiner 47 Länderspiele“.
Genau diese Identifikation fordert er nun auch von seinen Spielern. Fast alle könnten ebenfalls unter mindestens zwei Ländern wählen; entweder aufgrund der Vorfahren wie einst Barbarez („in meinem Blut ist alles, was man sich vorstellen kann: Kroatien, Serbien, Bosnien, Slowenien“), oder weil sie Teil der Kriegsdiaspora sind und Anrecht auf eine andere Staatsbürgerschaft haben. „Ich schaue ihnen in die Augen, und ob ich sie berufe, hängt vor allem davon ab, wie sie ‚Ja‘ sagen“, erklärt Barbarez.
Bei der Frage, inwiefern seine Mannschaft für das heutige Bosnien repräsentativ sei, zögert er mit seiner Antwort. Die Korruption, die schwierigen Lebensumstände und die Politik durchdringen zu viele Bereiche des beschwerlichen täglichen Lebens. Wenn man ihn aber fragt, welchen Charakter sein Team an den Tag lege, sagt er mit Bestimmtheit, dass man „den Jungs nur in die Augen schauen muss, wenn die Hymne erklingt“.
Was das heißen soll? Sein Team werde gegen Deutschland mit Emotion spielen – in einem Stadion in Zenica, das noch genauso aussehe wie zu seiner aktiven Zeit, als es – in Vorkriegszeiten – als schönste Arena Jugoslawiens galt. „Die Deutschen werden überrascht sein“, glaubt Barbarez. Auch von der Atmosphäre. „Der Balkan ist emotional“, erklärt er, er selbst versuche aber gleichermaßen Ratio und Realitätssinn einzustreuen. „Hier gilt noch mehr als anderswo, dass du entweder König bist – oder das Letzte“, sagt er – und das wiederum passe zu ihm: „Ich liebe diese Herausforderung“. Die besteht vor allem darin, bald konkurrenzfähig zu sein – und sich für die WM 2026 und die EM 2028 zu qualifizieren.