Borussia Dortmund: Emre Can und Nuri Sahin bringen ihre Kritiker zum Schweigen | ABC-Z
Gegen RB Leipzig gelingt Borussia Dortmund ein Kraftakt, den viele dem kriselnden Team nicht zugetraut hatten. Beim Sieg zeigt der BVB die beste Saisonleistung. Besonders der heftig kritisierte Trainer und sein Kapitän spüren nun Genugtuung.
Loïs Openda rannte mit dem Ball Richtung Strafraum. Emre Can nahm im Vollsprint die Verfolgung auf. Fünf Meter vor dem Tor stellte der Kapitän von Borussia Dortmund den Stürmer von RB Leipzig – gerade noch rechtzeitig. Openda holte gerade zum Schuss aus. Doch Can spitzelte ihm im letzten Augenblick den Ball vom Fuß.
Die Dortmunder Fans im Stadion jubelten nach dieser Szene am Samstagabend, als hätte ihr BVB ein Tor erzielt. Can, der aufgrund der angespannten Personalsituation in der Innenverteidigung spielen musste, feierte sich für seine Rettungsaktion. Er blickte Richtung Tribüne und schlug sich mit der Hand auf die Brust: Seht her, ich war es!
Can ist in Interviews eine eher zurückhaltende Person. Er lächelte etwas verlegen, als nach dem 2:1 (1:1) auf die Szene aus der 63. Spielminute angesprochen. „Nein“, sagte er, die Geste sei nicht an die Adresse seiner Kritiker gerichtet gewesen. „Ich wollte den Leipziger Fans, die hinter unserem Tor standen, klarmachen: Das war unser Ball.“
An die Adresse der Kritiker, die versucht hatten, ihn zum Gesicht der Dortmunder Krise zu machen, hatte Can trotzdem eine Botschaft – eine ausführliche und persönliche. Die vergangenen Wochen seinen nicht schön gewesen, räumte er ein. „Ich bin auch nur ein Mensch und versuche, Leistung zu bringen. Das funktioniert nicht jede Woche, nicht in jedem Spiel. Ich versuche nicht, mich zu verstecken. Ich versuche, in der Kabine da zu sein. Ich habe keine guten Spiele gemacht – das weiß ich. Ich kann mit der Kritik umgehen, aber wenn es unter der Gürtellinie ist, kann ich damit nicht umgehen“, sagte er. Und für ihn, daran ließ der 30-Jährige keinen Zweifel aufkommen, war vieles „unter der Gürtellinie.“
Tatsächlich war der Defensivspieler von diversen Medien und Experten heftig angegangen worden. Er sei eher Belastung als Hilfe in der schwierigen Situation, in der sich der BVB befinde, hatte es geheißen. Can sei ein entscheidender Grund, dass die Dortmunder zuletzt in drei Wettwerben drei Niederlagen hinnehmen mussten – 2:5 bei Real Madrid in der Champions League, 1:2 beim FC Augsburg in der Bundesliga und 0:1 beim VfL Wolfsburg im DFB-Pokal. Er sei als Kapitän und Führungsspieler gänzlich ungeeignet und reagiere viel zu dünnhäutig auf Kritik.
„Wenn sich einer hinstellt und vor drei Wochen sagt, er werde zu kritisch gesehen und empfindet es als unfair, wie er teilweise kritisiert wird und spielt dann so einen Schrott drei Wochen hintereinander, dann brauchst du dich nicht zu wundern“, hatte Mario Basler, Fernseh-Experte für Sport1, gesagt.
In den sozialen Medien war Can teilweise beleidigt worden. Der BVB reagierte darauf. Er könne nachvollziehen, wenn sich die Leute kritisch mit Cans Leistungen auseinandersetzen, hatte Lars Ricken erklärt. „Aber wie dieser tolle Mensch teilweise verunglimpft wird – das geht gar nicht“, so der Dortmunder Sport-Geschäftsführer. Ricken drohte: im Zweifel werde der Klub „rechtliche Schritte einleiten, wenn Menschen, für die wir Verantwortung tragen, mit Hatespeech versehen werden.“
Viele Spieler aus der Reserve auf der Bank
Am Samstagabend schwiegen die Hater – und die Verantwortlichen der BVB atmeten erleichtert auf. Der Sieg kam unerwartet. Und gerade deshalb zur rechten Zeit. Auf gleich zehn Spieler hatten die Dortmunder verzichten müssen, darunter mit Torhüter Gregor Kobel, den Defensivspielern Waldemar Anton, Niklas Süle und Julian Ryerson mehrere Stammkräfte. Mittelfeldspieler Marcel Sabitzer stand trotz Rückenproblemen in der Startelf. Auf der Bank saßen fast nur noch Spieler aus der zweiten Mannschaft. Doch der BVB, dem oftmals eine Mentalitätsschwäche unterstellt worden, kämpfte bis zum Umfallen – und wartete mit seiner besten Saisonleistung auf.
„Die Jungs haben es gut gemacht – nicht nur kämpferisch, sondern vor allem auch spielerisch war es eine Topleistung. Es war von der ersten bis letzten Minute ein hochverdienter Sieg“, sagte Trainer Nuri Sahin. Ausgerechnet gegen die Leipziger, die seit 19 Bundesligaspielen unbesiegt waren und die in der aktuellen Saison lediglich drei Gegentore kassiert hatten, griff ein Rädchen ins andere. Die Dortmunder attackierten hoch, zwangen RB bereits nach einer Viertelstunde zu taktischen Umstellungen. Und zeigten eine Robustheit, die ihnen nur wenige zugetraut hatten.
Nach dem 0:1 von Benjamin Sesko (27. Minute) brach der BVB nicht auseinander, sondern schlug zurück: Zwei Minuten später „brannte“ es im Gästestrafraum bereits wieder, als Jamie Gittens mit einer Großchance an Péter Gulácsi scheiterte. Wiederum eine Minute darauf erzielte Maximilian Beier mit seinem ersten Pflichtspieltor für den BVB den Ausgleich.
Auch danach hielten die Dortmunder das Tempo hoch. Der Siegtreffer von Serhou Guirassy sorgte für die Erlösung. „Erleichterung, aber auch Freude“, habe er verspürt, sagte Sebastian Kehl. Der Sportdirektor war genauso wie Sahin in den vergangenen Tagen in die Kritik geraten. Dem Trainer wurde vorgeworfen, falsche Entscheidungen in Bezug auf Auf- und Einstellung der Mannschaft getroffen zu haben. Kehl musste sich Vorhaltungen wegen vermeintlicher Fehlplanungen bei der Kaderzusammenstellung gefallen lassen. Es gebe, speziell im Defensivbereich, zu wenig Alternativen, hieß es.
Die Kritik ist berechtigt. Sahin hatte bei der Niederlage in Madrid ohne Not die taktische Ausrichtung geändert. Und tatsächlich war es gewagt, mit nur jeweils drei Innen- und Außenverteidigern in die Saison zu gehen. Allerdings war dies keine einsame Entscheidung von Kehl, sondern gemeinsamer Beschluss aller BVB-Verantwortlichen. Doch bei Traditionsvereinen wird Kritik besonders schnell personalisiert.
Für Sahin, dessen Rauswurf von einigen Fans und Kritikern bereits gefordert wurde, war der Sieg zwar bisher nicht der Befreiungsschlag in eigener Sache – doch in jedem Fall ein Argument, dass er die Mannschaft nach wie vor erreicht. Auch dies war im Zuge der Hysterie der vergangenen Tage bereits in Zweifel gezogen worden.
Dies war an dem 36-Jährigen, der erst im Sommer auf Edin Terzić gefolgt war, nicht spurlos vorübergegangen. Er hatte versucht, die Kritik auszublenden – so gut es eben ging. „Als ich den Vertrag hier unterzeichnet habe, wusste ich, dass ich im Spotlight stehe und als Trainer in der Kritik stehen werde. Im Umkehrschluss kriegt man nach so einen Sieg aber auch viel Lob“, sagte er.
Er wisse, dass dies auch nur eine Momentaufnahme bleiben könne. Der Anschluss an die Spitzengruppe in der Liga blieb zwar gewahrt, doch die Personalsituation bleibt angespannt. Es würde ihn „nicht mehr überraschen, wenn noch einige Ausfälle dazukommen würden“, so Sahin. Nach dem Kraftakt von Samstag klagten Sabitzer, Ramy Bensebaini und Jamie Gittens über Probleme. Bensebaini sah zudem die fünfte Gelbe Karte.
Am Dienstag (21 Uhr, DAZN), wenn es in der Champions League gegen Sturm Graz geht, und am Samstag (15.30 Uhr, Sky), wenn das Bundesliga-Auswärtsspiel beim 1. FSV Mainz 05 ansteht, wird Sahin erneut puzzeln müssen.
Oliver Müller war gegen RB Leipzig im Dortmunder Stadion. Er ist seit Jahrzehnten Fußball-Reporter und berichtet für WELT vor allem über die Klubs aus Nordrhein-Westfalen.