Bodenoffensive im Libanon: Israels dritte Front wird ein ganz anderer Krieg als Gaza | ABC-Z
Israel hat eine weitere Front eröffnet und rückt in den Libanon ein. Wird das genauso aussehen wie der Gazakrieg? Nein, sagt Urban-Warfare-Experte John Spencer aus Westpoint. Die Herausforderungen für Israels Truppen seien anders aber nicht geringer. Sogar die Chance auf ein schnelles Ende der Kämpfe besteht.
Als im Libanon Mitte September massenweise Pager explodieren, ist das nicht nur eine ausgeklügelte Geheimdienst-Operation gegen die Terrormiliz Hisbollah. Viele Libanesen ahnen voller Angst: Es ist ebenso ein Vorbote. Ein Hinweis auf das, was seit Montagabend im Libanon vor sich geht: Die israelische Armee (IDF) rückt am Boden über ihre Nordgrenze hinein in den Süden des Nachbarstaates. Israel eröffnet eine weitere Front, zusätzlich zu den Kämpfen, die in Gaza immer noch andauern und zusätzlich auch zu Raketen, die die IDF derzeit täglich in Richtung Jemen abfeuern, gegen die Huthi-Miliz.
Der Angriff mit Bodentruppen auf die Terroristen im Libanon werde anders ablaufen und anders aussehen als die Gaza-Offensive, sagt der renommierte US-Militärexperte John Spencer. Wenn auch die Hamas in Gaza sich einige Taktiken bei der Hisbollah abgeschaut hatte. Etwa, wie man sich vor Angreifern unter Tage verschanzt. “Der Süden Libanons wird das ‘Land der Tunnel’ genannt. Hisbollah hat dort ein weitläufiges Netz von unterirdischen Gängen unter Dörfern aber auch in die Berge gegraben”, sagt Spencer während eines Videogesprächs mit europäischen Pressevertretern. “Die militärische Herausforderung für die IDF wird Tag und Nacht bestehen.” Und sie besteht gegen eine weit größere Kampftruppe. Etwa 200.000 Mann stark ist die Hisbollah im Libanon, das Fünffache der palästinensischen Hamas.
Doch werden Israels Streitkräfte in der nun begonnenen Operation nicht auf ein so ausgefeiltes, menschenverachtendes Bollwerk zur Verteidigung treffen, wie es in Gaza der Fall war. “In Gaza verbargen sich 40.000 Hamas-Kämpfer in dicht besiedelten Städten mit über 100.000 Einwohnern. Sie versteckten sich in einem 400 Meilen langen Gängegewirr unter der Erde. Die Hamas hatte jeden Zentimeter der Stadt vorbereitet für diese Schlacht.” In der Geschichte von Urban Warfare, also Häuserkriegsführung, auf die Spencer sich spezialisiert hat, war die Herausforderung für die IDF in Gaza einmalig. Weit größer als Bachmut und Mariupol im Ukrainekrieg, als Raqqa und Mossul im Kampf gegen den IS oder als Stalingrad.
Während also die IDF im Oktober 2023 in Gaza gegen eine Terrorgruppe marschierten, die nur darauf zu warten schien, dass die Israelis angreifen würden, treffen die Soldaten nun auf einen Gegner, der nach herben Schlägen in seinen Grundfesten erschüttert und aus der Fassung ist. “Was Israel vor zwei Wochen gegen die Hisbollah gestartet hat, nennen wir eine ‘Enthauptungskampagne’. In präzisen Angriffen hat sie nahezu die gesamte Führungsriege der Miliz ausgeschaltet”, urteilt Spencer aus seinem Büro in der Us-Militärakademie Westpoint. Vor allem auf der psychologischen Ebene erwartet Spencer deutliche Auswirkungen auf Hisbollahs Kampfkraft.
Die Libanesen können fliehen, und tun es auch
Die zieht also mit einer durch schiere Größe und ein umfassendes Raketenarsenal schon kampfstarken Truppe in die Schlacht, hat aber neben ihren wichtigsten Führungskadern auch noch ein zentrales Kommunikationsmittel – Pager und Funkgeräte – eingebüßt. Auch solche praktischen Folgen müssen die Kämpfer nun kompensieren, ohne Zeit zur Vorbereitung.
Der aus Spencers Sicht eklatanteste Unterschied zum Gazakrieg liegt indes in der Bedrohungslage für die Bevölkerung. “Was wir jetzt schon sehen: Libanesische Familien folgen dem Aufruf Israels und fliehen aus der Gefahrenzone. Zum Teil hindern sie sogar Hisbollah-Kräfte daran, weitere Siedlungen zu nutzen, um sich dort zu verschanzen. Was wir noch sehen werden: Hisbollah wird versuchen, die Zivilbevölkerung in den Kampfgebieten zu halten.”
Doch ein entscheidender Vorteil, der viele Menschenleben in dieser Offensive retten könnte: Die Libanesen können das Land verlassen. Etwa 100.000 Menschen sollen über die östliche Landesgrenze nach Syrien geflohen sein. Darunter viele syrische Flüchtlinge, die sich noch im Libanon aufhielten, aber auch libanesische Bevölkerung ist darunter. Zivilisten haben eine Möglichkeit, sich verlässlich in Sicherheit zu bringen – anders als die Palästinenser, die im Gazastreifen gefangen waren und sind, auch weil Nachbarland Ägypten seine Grenze nicht für Flüchtlinge öffnete.
Den Aussagen der israelischen Streitkräfte nach hat die Operation im Libanon ein – auch geografisch – klar eingegrenztes Kriegsziel. Ein weiterer relevanter Unterschied zum Gazakrieg lautSpencer: “Ein Kriegsziel wie in Gaza nennen wir ‘unbegrenzte Zielsetzung’ – die IDF sind einmarschiert, um die militärische Macht vollkommen zu zerstören, um die politische Macht abzusetzen.” Im Libanon, so erklärt es Israel quasi täglich, verfolgt man kein so umfassendes Ziel. Hier sollen die Streitkräfte die Grenze stabilisieren und die Bedrohungslage für die israelischen Siedlungen direkt an der Grenze auflösen. Dieser Kontext sei “ganz entscheidend für die Wahl der Mittel im Krieg”.
Der Experte erwartet große Schäden in der Region, denn die IDF werden Siedlungen zerstören müssen, um die Hisbollah aus der Region zu vertreiben. “Aber es wird nicht die Intensität haben, die wir in Gaza sahen.” Doch warnt Spencer davor, die Hisbollah militärisch zu unterschätzen.
Noch weiß niemand genau, wie Israels Offensive sich entwickeln wird, um den Norden des Landes zu stabilisieren. Mit den Bodenoperationen könnten sie die Terrorgruppe zurückdrängen, nach Norden, mindestens hinter den Litani-Fluss. “Diese Markierung stammt noch aus Zeiten als Hisbollah Israel mit deutlich schwächeren Waffen bedrohte als heute”, so Spencer. Jetzt könne die Miliz mit ihren präzisen Langstreckenraketen Tel Aviv und Jerusalem treffen. “Trotzdem funktioniert der Litani-Fluss vielleicht auch heute als Grenzlinie, um für Israels Norden Sicherheit zu schaffen.”
Hisbollah buddelte heimlich Tunnel
Ein Rückzug hinter den Litani ist der Hisbollah schon seit dem Jahr 2006 von den Vereinten Nationen (UN) auferlegt. Damals kam ein weiterer Krieg zwischen der Terrormiliz und dem Staat Israel zum Ende. UN-Resolution 1701 besagte – und besagt noch heute -, die Gruppe solle sich ins Gebiet jenseits des Flusses zurückziehen, damit eine 30 Kilometer tiefe Pufferzone entstehen kann, die von keinem der Gegner bevölkert ist. UN-Truppen sollen sie kontrollieren.
Die Resolution wurde verabschiedet, doch danach beschäftigten sich die Terroristen nicht einen Tag damit. Sie blieben einfach da, an der Grenze. Die Gegend ist karg, von israelischem Gebiet aus hat man beste Sicht auf libanesische Dörfer jenseits des Zauns. Über der Erde herrschte friedliches Dorfleben, doch in den Häusern buddelte die Hisbollah heimlich Tunnel in den Untergrund, die auf israelisches Gebiet führten. Ab und an schickte man auch mal eine Rakete rüber zum Nachbarn.
Seit dem 8 Oktober jedoch übersäht Hisbollah den Norden Israels täglich mit Luftangriffen. Exakt von dem Gebiet aus abgefeuert, das eigentlich Pufferzone sein sollte. Wer in die Gegend reist, muss flexibel sein. Immer wieder sind Landstriche durch Israels Armee plötzlich gesperrt, weil sie unter Feuer stehen. Auf den Golanhöhen, in einem von der christlichen Minderheit der Drusen bewohnten Gebiet, schlug eine Rakete der Hisbollah im Juli auf einem Fußballplatz ein. Zwölf Kinder starben. Die Drusen sind mehrheitlich in ihren Dörfern geblieben. Die israelischen Siedlungen im Norden sind nun seit einem Jahr verwaist. 80.000 Menschen als Binnenflüchtlinge auf den Rest des Landes verteilt. Würde sich Hisbollah auf eine Pufferzone einlassen und ein Ende ihrer Angriffe verkünden, so könnten wenigstens diese Geflüchteten in ihre Heimat zurückkehren.
Hamas wusste, “wir werden sterben”
Kurz nach dem Attentat auf Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah kündigte Hisbollahs verbliebene Führungsriege bereits an, sie werde ihre Attacken fortführen. Dennoch sieht Spencer eine Chance für ein schnelles Ende der Kämpfe und eine Einigung: “Wenn die Hisbollah rational an die Sache herangeht, stellt sie eine andere Theorie auf als sie in Gaza galt. Wenn wir uns erinnern: Die Hamas in Gaza wusste vom ersten Tag an, ‘wir werden alle sterben’. Und sie proklamierte, dass sie das tun, um Israel zu zerstören.”
Hisbollah hingegen habe so etwas nie gesagt oder in diesem Sinne gehandelt, analysiert Spencer. Zudem hätte der Iran als Finanzier und eigentlicher Führer der Hisbollah auch eine gewichtige Stimme in einem solchen Entscheidungsprozess. “Israel hat nun ein Jahr lang mit diplomatischen Mitteln probiert, Hisbollah zum Einstellen ihrer Angriffe auf den Norden des Landes zu bewegen.” Aus Sicht des Wissenschaftlers sind die Israelis jetzt an dem Punkt zu signalisieren, dass sie bereit sind, die Entscheidung mit Gewalt herbeizuführen. Und das könne der Hisbollah noch eine Chance eröffnen, auf diplomatischem Weg den Konflikt beizulegen.
“Wenn Hisbollah heute zur internationalen Gemeinschaft sagen würde: ‘Schaut mal, wir haben der Hamas geholfen, im Grunde haben wir unser Ziel erreicht, stellen unsere Raketenangriffe ein und ziehen uns hinter den Litani zurück.’, dann hätte Israel seine Abschreckung wiederhergestellt und könnte die Sicherheit seiner Bürger im Norden wieder gewährleisten. Ich hoffe, dass es solch eine Lösung geben wird und sehe dafür auch eine tatsächliche Chance.”