“Blind” mit Juliane Köhler im Residenztheater: Die AZ-Kritik | ABC-Z
Die Bedrohung bleibt draußen. Vor der Türe stehen Wachmänner mit Maschinengewehren, im Alarmfall fahren Sicherheitsrollläden runter und sperren alle Gefahren aus. Vorräte in Form von weißen Bohnen in Tomatensauce sind reichlich vorhanden. Richard, einst Mitarbeiter der Wasserbehörde, nun Witwer im Ruhestand, hat vorgesorgt.
Nur gegen die Gefahren von innen ist er weniger gut gewappnet: Richard ist krank und droht zu erblinden; seine Haushaltshilfe hat er rausgeschmissen und das Verhältnis zu seiner Tochter Helen ist zerrüttet.
Keine Aussicht, nirgends
Im Stück “Blind” der niederländischen Erfolgs-Dramatikerin Lot Vekemans treffen zwei Personen aufeinander: Vater und Tochter. Matthias Rippert hat nun die Deutschsprachige Erstaufführung am Residenztheater mit Juliane Köhler und Manfred Zapatka inszeniert. Als das Publikum den Saal betritt, sitzt Zapatka auf einem Stuhl vor einer bühnenbreiten Fensterfront und starrt ins Leere. Hinter den Fenstern ist nichts zu erkennen. Keine Aussicht, nirgends.
Juliane Köhler kommt dazu, mit einer Papiertüte voller Einkäufe. Vom ersten Moment an ist zwischen den beiden vor allem Sprachlosigkeit. Er beschwert sich, dass sie die falsche Milch gekauft hat. “Anderthalbliterpäckchen” statt der gewünschten “Literpäckchen”, die sich doch so gut stapeln lassen im Vorratsschrank. Sie wirft ihm vor, sich zu verschanzen, “um nicht merken zu müssen, wie sich die Welt verändert hat”. In den Pausen zwischen den kurzen Sätzen scheint vor allem eins auf: Entfremdung.
Abstrakte Gefahren
Vekemans, eine Meisterin des Nicht-Gesagten, legt im Laufe dieses Stücks einige Fährten, macht das Publikum zu Pfadfindern durch diese beiden Leben und ihre Irrwege. Einiges klärt sich auf, anderes bleibt einfach so stehen. Durch diese Familie ging ein Bruch, als Helen einen Mann heiratete, der “anders” ist. “Ich rede von anders”, sagt Richard. “Und du meinst geringer”, erwidert Helen. Ohne je wirklich konkret zu werden, erzählt Vekemans von einer Gesellschaft, in der es zwei Gruppen von Menschen gehört, ein “wir” und “die anderen”. Eine Gesellschaft, die geteilt ist, bestimmt von Angst und Misstrauen. In der das Wasser knapp ist und der Sinn für Solidarität noch knapper. Die Angst Richards vor Überfällen auf sein Zuhause scheint unbegründet, die realen Gefahren sind abstrakter und umfänglicher. Vor ihnen schließt er die Augen, für sie ist er blind.
Vielleicht liegt die Qualität dieses Textes darin, dass er die Welt nicht einfacher macht, als sie ist. Aus seiner Abstraktheit erwächst eine Art Allgemeingültigkeit. Vekemans lässt nicht nur Vater und Tochter aufeinanderprallen, sondern zwei Generationen und zwei Weltanschauungen. Im Laufe des Lebens haben sich jede Menge Verletzungen angesammelt, die eine Annäherung schwierig bis unmöglich machen. Beide sind Gefangene ihrer selbst, und sitzen nun in diesem Gefängnis von einem Haus aufeinander fest. Der Vater fühlt sich von der Tochter im Stich gelassen; die Tochter sich von ihm verstoßen.
Reduziertes Spiel
Doch gibt es hier nicht die alte festgefahrene versus die neue weltoffene Sicht der Dinge. So einfach macht es die Autorin sich und uns nicht. Hinter Richards Trotz verbirgt sich ein innovativer Geist und durchaus Selbsterkenntnis: “Wenn man überlegt, warum Dinge sind, wie sie sind, dann gibt es letztlich nur die eine Antwort: weil wir Menschen sind. Weil wir Fehler machen, weil wir Egoisten sind, weil wir uns selbst schützen wollen.”
In Helens Ehe kriselt es und auch sie verfällt im Streit mit ihrem Mann am Telefon in ein Wir-versus-Ihr: “Ich gebe mir die größte Mühe, niemanden vor den Kopf zu stoßen, ich vertiefe mich in eure Geschichte, in euren Schmerz, in das, was meine Sorte Menschen euch angetan hat, und anscheinend ist es zu viel verlangt, dass du das jetzt ein einziges Mal für mich tust.”
Zapatka und Köhler spielen reduziert, große Gefühlsausbrüche gibt es an diesem Abend keine, wohl aber kleine feine Momente der Sehnsucht nach einer Annäherung, in denen für Sekunden eine lange verlorene Vertrautheit durch die Verhärtung schimmert. Trotzdem wären ein wenig mehr Emotion und Lautstärke, ein bisschen weniger Selbstbeherrschung hie und da schön gewesen. Und menschlich.
Wieder am 30. November, 5. und 12. Dezember