Bleibt nach der Bundestagswahl noch weniger Netto vom Brutto? | ABC-Z
Schlagzeilen wie diese schrecken regelmäßig auf: Spitzensteuersatz trifft immer mehr Steuerzahler. Abgabenlast für Arbeitnehmer fast nirgendwo so hoch wie in Deutschland. Immer mehr Rentner müssen Steuern zahlen. Wenn die Statistiken aktualisiert werden, rauschen solche Botschaften durch die Medien. Sie deuten auf eine schleichende Mehrbelastung der Bürger. Das liegt nahe, wenn die Steuerpolitik höchstens die Effekte der steigenden Preise ausgleicht. Dann führen höhere Realeinkommen weiterhin zu höheren Abzügen zugunsten des Finanzamts. Wenn gleichzeitig die Kosten der Sozialversicherungen für die Arbeitnehmer wachsen, steigt ihre gesamte Abgabenlast. Hinzu kommen die Sozialbeiträge der Arbeitgeber, deren Anstieg sich zunehmend als Hemmnis für den Wirtschaftsstandort erweist.
Steuern und Abgaben verschmelzen offenkundig zu einer unangenehmen Melange. Wie die gesamtwirtschaftliche Belastung sich verändert hat, zeigt ein kurzer Blick zurück. Die volkswirtschaftliche Abgabenquote, also Steuern plus Sozialabgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, ist nach den Zahlen der Industrieländerorganisation OECD hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten spürbar gestiegen: von 31,7 Prozent im Jahr 1965 über 34,4 Prozent im Jahr 2005 auf zuletzt (2022) 39,3 Prozent. Bei der aktuellen Wirtschaftsleistung macht allein der Anstieg der vergangenen zwanzig Jahre mehr als 200 Milliarden Euro aus, die zusätzlich in die Kassen des Staates gelenkt werden. Zwar gibt es Länder, die eine noch höhere Abgabenquote haben wie Frankreich (46,1 Prozent), Italien (42,9 Prozent) und die skandinavischen Länder (durch die Bank mehr als 41 Prozent), aber auch einige, die mit deutlich weniger auskommen: Irland (20,9 Prozent), Schweiz (27,2 Prozent) Vereinigte Staaten (27,7 Prozent). Nebenbei: Wachstumsdynamik ist eher in der zweiten Gruppe zu verorten.
In der Steuerpolitik beschränken sich deutsche Regierungen seit vielen Jahren darauf, die kalte Progression zu korrigieren, also die schleichende Mehrbelastung aus dem Zusammenspiel von Inflation und progressiver Einkommensteuer. Ohne diese Verschiebung des Steuertarifs zahlten die Bürger mehr an das Finanzamt, obwohl sie sich mit ihrem Einkommen nicht mehr Güter leisten können. Aber wenn die Finanzpolitik darüber hinaus nichts macht, rutschen mehr und mehr Bürger in den Bereich der Spitzenbelastung, obwohl diese ursprünglich nicht für sie gedacht war. So kann man heute mit Teilen des Einkommens sowohl dem Spitzensteuersatz unterliegen als auch Sozialversicherungsbeiträge zahlen.
Zahl der Steuerpflichtigen verdoppelt
Die Zahl der Steuerpflichtigen, die mit dem Höchstsatz besteuert werden, hat sich nach der jüngsten Datensammlung des Bundesfinanzministeriums binnen eines Jahrzehnts nahezu verdoppelt: Sie erhöhte sich von 1,6 Millionen im Jahr 2010 auf mehr als 3 Millionen 2019. Dann endet die aktuelle Betrachtung, weil sich die Steuerveranlagung hinziehen kann; das verzögert die statistischen Daten.
Die in der Datensammlung aufgeführten Tabellen zur Belastung von Durchschnittsverdienern scheinen dem Befund einer schleichenden Mehrbelastung zu widersprechen. Danach ist das verfügbare Einkommen in den vergangenen zwanzig Jahren nicht spürbar gesunken. Aber diese Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik haben Defizite. Zum einen wird der Durchschnittswert plump aus dem Verhältnis von Bruttolohn- und -gehaltssumme zur Zahl der inländischen Arbeitnehmer gebildet – Teilzeitbeschäftigte verzerren und drücken somit den Wert. Verdienst und Abgabenlast des typischen Vollzeitbeschäftigten dürften höher sein als ausgewiesen. Zum anderen spiegeln die Zahlen nicht die Umstellung der Rentenbesteuerung. Früher wurden vor allem die Beiträge besteuert, künftig nur noch die Renten. Diese aufgeschobene Steuerlast ist in den Tabellen nicht zu sehen.
Vor zwanzig Jahren ging es los mit der Umstellung auf die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte. Die Teile des Gehalts, die Arbeitnehmer als Beiträge abführen, wurden seither schrittweise von der Einkommensteuer ausgenommen. Seit 2023 werden sie komplett verschont; so wie der Arbeitgeberanteil als Kostenfaktor schon immer den zu versteuernden Gewinn des Unternehmens drückte. Im Gegenzug stieg aber der Anteil der Rente, den Versicherte vom Eintritt in den Ruhestand an versteuern müssen. Wer 2005 oder früher in Rente gegangen ist, musste theoretisch nur die Hälfte der Rente versteuern, danach stieg diese Quote von Jahr zu Jahr. Der steuerfreie Anteil wird für jeden Rentner in einen festen Betrag umgerechnet und für die Zukunft festgeschrieben. Bei einer steigenden Rente sinkt somit der Teil, der unversteuert bleibt.
Abgabenlast nur in Belgien höher
Im Jahr 2005 gab es nach den Zahlen des Bundesfinanzministeriums gut vier Millionen Steuerpflichtige mit Renteneinkünften. Unter ihnen hatten 425.000 Steuerzahler allein Renten als Einkommen. Aus dieser Gruppe zahlten damals nur 18 Prozent Steuern – im Durchschnitt 38 Euro im Jahr. Im Jahr 2019 gab es demgegenüber fast acht Millionen Steuerzahler mit Renteneinkünften. Von denen, die ausschließlich Renteneinkünfte hatten, waren 71 Prozent steuerbelastet – mit im Schnitt 463 Euro. Dass mehr Senioren Steuern zahlen müssen, wenn die Renten mehr und mehr besteuert werden, liegt auf der Hand. Das ist kein Skandal, auch wenn interessierte Kräfte es gelegentlich so darstellen. Es ist Teil des Konzepts.
Den aktiven Arbeitnehmern, die davon zumindest in der Erwerbsphase profitierten, hat es aber unterm Strich offensichtlich keine wirkliche Entlastung gebracht. So stellt es sich in den Betrachtungen der Industriestaatenorganisation OECD dar, die jährlich die Belastung von Arbeit mit Steuern und Abgaben international vergleicht. Regelmäßig liegt dabei Deutschland in der unrühmlichen Spitzengruppe der 38 Mitgliedstaaten. Nur in Belgien ist die Abgabenlast für einen Durchschnittsverdiener noch höher. Für einen Single ohne Kinder in Deutschland kam sie zuletzt auf einen Wert von 47,9 Prozent. Der Durchschnitt lag bei 34,8 Prozent.
Frank Hechtner von der Universität Erlangen-Nürnberg fordert die nächste Bundesregierung auf, sich grundlegende Gedanken zum Einkommensteuertarif zu machen. „Ein Spitzensteuersatz von 42 Prozent und eine zusätzliche Reichensteuer von 45 Prozent sind nicht mehr zeitgemäß“, sagte der Wissenschaftler der F.A.Z. Deutschland sei mittlerweile Spitzenreiter bei Steuer- und Abgabenlast. „Der Verlauf des Einkommensteuertarifs muss auch die Lohnsteigerungen der vergangenen Jahre berücksichtigen, sodass die Grenzbelastung von 42 Prozent erst deutlich später einsetzen sollte.“
40-Prozent-Marke weit überschritten
Doch selbst wenn es einer neuen Regierung gelänge, trotz aller Haushaltsnöte eine Reform mit echten Steuerentlastungen für die meisten Beschäftigten zu verwirklichen: Hoffnungen auf „mehr Netto vom Brutto“ würden wohl trotzdem enttäuscht. Das liegt daran, dass sich bei den Sozialkassen – Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung – inzwischen ein gewaltiger Druck zu immer weiteren Beitragserhöhungen aufgebaut hat. Die bis vor wenigen Jahren als Obergrenze geltende Marke von 40 Prozent des Bruttolohns ist ohnehin schon weit überschritten. Und es gibt bisher kaum politische Rezepte, das zu ändern oder auch nur den weiteren Anstieg spürbar zu bremsen – außer, man zählte dazu auch Ideen wie jene des Grünen-Spitzenkandidaten Robert Habeck, künftig neben den Löhnen auch Zinseinkünfte mit Kassenbeiträgen zu belasten.
Nach den jüngsten Erhöhungen der Krankenkassen- und Pflegebeiträge um insgesamt einen Prozentpunkt zu Jahresbeginn hat die Gesamtbelastung nun für einen Teil der Beschäftigten erstmals den alten Höchststand von 42,1 Prozent aus dem Jahr 1997 überschritten: Für die Rentenkasse werden 18,6 Prozent fällig, für die Krankenkassen im Mittel 17,1 Prozent, für die Pflege als Regelbeitrag 3,6 Prozent und für die Arbeitslosenversicherung 2,6 Prozent. Zusammen sind das zunächst 41,9 Prozent. Für Versicherte ohne Kinder kommen aber noch 0,6 Prozent Pflege-Sonderbeitrag hinzu. Für sie sind es schon 42,5 Prozent.
Weiterer Anstieg bereits absehbar
Selbst das ist aber nur der Anfang eines schon absehbaren weiteren Anstiegs. Die Rentenversicherung erwartet nach offizieller Schätzung im Laufe der neuen Legislaturperiode einen Beitragsanstieg um 1,3 Prozentpunkte auf 19,9 Prozent, selbst für den Fall, dass sich SPD und Grüne mit ihren Wahlversprechen zur Beschleunigung der jährlichen Rentenerhöhungen nicht durchsetzen. Allein damit stiege der Gesamtbeitragssatz spätestens Anfang 2028 auf 43,8 Prozent. Zugleich deutet fast nichts darauf hin, dass die übrigen Sozialversicherungszweige in der neuen Legislaturperiode ohne weitere Erhöhungen auskommen könnten. Das gilt selbst für die lange Zeit sehr solide aufgestellte Arbeitslosenversicherung. Aufgrund von Wirtschaftsflaute und steigender Arbeitslosigkeit sind ihre Ausgaben höher als die Einnahmen; Fachleute halten es daher für immer wahrscheinlicher, dass für 2026 auch dort eine Beitragserhöhung nötig wird.
Noch ungemütlicher sind die weiteren Aussichten indes im Bereich der Krankenkassen. Die jüngste Anhebung ihrer Beiträge um (nach amtlicher Rechnung) durchschnittlich 0,8 Prozentpunkte hat ihnen nicht etwa längerfristig neue Stabilität verschafft. Da der Haupttreiber des Problems unkontrolliert steigende Gesundheitskosten sind und die Alterung der Gesellschaft erschwerend hinzukommt, sind weitere Erhöhungen fast schon programmiert. Der Chef der großen Krankenkasse TK, Jens Baas, hat gerade schon vor einem Anstieg auf 20 Prozent noch in diesem Jahrzehnt gewarnt.
Ohne einschneidende Gesundheitsreform drohte also schon in der Amtszeit der kommenden Bundesregierung noch einmal ein Anstieg um fast drei Prozentpunkte – zusätzlich zu den schon absehbaren knapp 44 Prozent im Jahr 2028. Für 2029 ging es dann also schon eher in Richtung 47 Prozent. Und da die Kostendynamik in der Pflegeversicherung nicht günstiger ist, wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, kämen deren nächste Erhöhungen noch obendrauf.
Die Aussichten für Steuer- und Abgabenzahler sind überdies noch aus einem weiteren Grund nicht günstig. Denn noch etwas haben die vergangenen Jahre gezeigt: Wann immer Regierungen mit Finanznöten im Bundeshaushalt kämpfen, machten sie sich auch das Prinzip „Verschiebebahnhof“ zunutze. Zuvor steuerfinanzierte Ausgaben wurden in unterschiedlichsten Formen auf die Sozialkassen abgeschoben und damit, mal mehr, mal weniger gut kaschiert, auf die Beitragszahler. Wäre dies womöglich der Preis für die erhoffte Steuerreform, sollten Beschäftigte lieber zweimal rechnen, was ihnen diese nützt.