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Bilder aus dem Gazastreifen: “Die Hamas inszeniert viel – trotzdem ist nicht alles Propaganda” | ABC-Z

Wie glaubhaft sind Fotos, die aus dem Gazastreifen kommen? Christopher Resch, Referent bei Reporter ohne Grenzen und zuständig für den Nahen Osten, sagt: Die Hamas wisse um die Macht der Bilder, dennoch sei ein grundsätzliches Misstrauen unangebracht. Im Interview mit ntv.de spricht er zudem über den möglichen Grund, warum Israel keine internationalen Journalisten nach Gaza lässt.

ntv.de: Das Foto eines abgemagerten, 18 Monate alten Jungen aus Gaza hat eine Diskussion ausgelöst. Internationale und auch deutsche Medien haben das Foto verwendet, um damit die Hungersnot in Gaza zu bebildern, ohne zu erwähnen, dass der Junge Vorerkrankungen hat. Wie aussagekräftig sind die Bilder, die wir aus dem Gazastreifen bekommen?

Christopher Resch: Es wurden journalistische Fehler gemacht. Mehrere Medien haben nicht deutlich gekennzeichnet, was der Junge genau hat. Doch diese Details sind wichtig, weil die Vorerkrankungen wohl ein Grund dafür sind, dass der Junge so abgemagert aussieht. Zugleich, und das ist wichtiger, hat das Kind auch an Hunger gelitten und leidet vermutlich immer noch. In erster Linie sieht man also ein Kind, dem es ohne diesen brutalen Krieg, in einer besseren Versorgungslage, nicht so schrecklich gehen würde.

Kann man aus dem Fall ableiten, dass wir generell misstrauisch sein sollten, wenn wir Bilder aus Gaza sehen?

Nein. Der Fall eignet sich vielleicht für eine medienkritische Betrachtung, aber das Kind selbst existiert ja. Es geht ihm real schlecht. Und es gibt viele weitere Bilder von hungernden Kindern und Erwachsenen. Wir kennen alle die Aufnahmen rund um die Ausgabestellen der “Gaza Humanitarian Foundation”, wo die israelische Armee mutmaßlich auf Menschen geschossen hat. Der Fall taugt nicht dazu, zu sagen, solche Bilder seien allesamt Propaganda und jeder Journalist in Gaza stecke mit der Hamas unter einer Decke. Beides weise ich zurück.

Dass die Hamas auch Bilder inszeniert, ist aber doch hinlänglich belegt.

Die Hamas weiß genau, wie mächtig Bilder sind. Die inszenieren mit Sicherheit viel und das auch in einem Ausmaß, das weit über den Fall des Jungen hinausgeht. Es wäre zudem naiv zu sagen, unter ihrer Herrschaft ließe sich journalistisch unabhängig arbeiten, das war vor dem Krieg schon nicht so. Und auch heute geht zumindest in den Gebieten, die noch von der Hamas kontrolliert werden, nicht viel an ihr vorbei – was wiederum nicht automatisch bedeutet, dass die Bilder nicht echt oder manipuliert sind. Man muss dazu sagen: Zensur und Einflussnahme gibt es in jedem Krieg. Auch das israelische Militär möchte ihr eigenes Narrativ verbreiten. Das macht es für die Öffentlichkeit schwer, sich ein eigenes Bild zu verschaffen.

Wer sind denn die Menschen, die aus Gaza berichten?

Das sind zum einen langjährige Journalisten, die für Nachrichtenagenturen wie AFP oder für Al-Jazeera gearbeitet haben. Einige können auch noch immer weitgehend eigenständig arbeiten, sind nicht mit der Hamas verbunden und lassen sich auch nicht alles abnehmen. Andere sind quasi über Nacht zu Kriegsreportern geworden. Man braucht im Grunde nur ein vernünftiges Handy, schon ist man journalistisch tätig, auch wenn man vorher keine Ausbildung oder Erfahrung hatte. Und das kann die Hamas kaum kontrollieren, auch wenn sie das gerne würde.

Was könnte denn helfen, die unübersichtliche Lage zu entwirren?

Reporter ohne Grenzen fordert, und da sind wir bei weitem nicht allein, dass die israelischen Behörden endlich unabhängige, internationale Journalisten in den Gazastreifen lassen. Dann hätten wir sehr viel weniger diese Glaubwürdigkeits-Debatte. Wir könnten auch die Desinformation, die seit Tag eins durch Social Media geschwemmt wird, eindämmen. Ich finde es schon bemerkenswert, dass die Armee eines demokratischen Staates sich so stark dagegen sperrt. Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass es darum geht, Kriegsverbrechen zu verschleiern, und darum, das Narrativ selbst bestimmen zu wollen. Das hängt auch mit der Motivation zusammen, dem Narrativ der Hamas möglichst keinen Raum zu geben. Aber das ist ein Fehlschluss.

Warum?

Ich denke, dass das Pendel in der derzeitigen weltweiten Wahrnehmung eher in Richtung der Palästinenser ausschlägt. Das liegt natürlich an der humanitären Katastrophe in Gaza, an den Bildern, die wir aus Gaza bekommen. Wenn die israelische Armee der Ansicht ist, die palästinensischen Journalisten würden solche Bilder nur inszenieren, wäre es doch ein Leichtes, dem entgegenzuwirken, indem man internationale Berichterstatter hineinlässt. Aber man hat wahrscheinlich die Sorge, dass Kriegsverbrechen ans Licht kommen.

Reporter ohne Grenzen nennt die Palästinensischen Gebiete die derzeit gefährlichsten Orte der Welt für Journalisten. Woran machen Sie das fest?

Das liegt vor allem an der Art und Weise, wie Israel Krieg führt. Fast 200 Medienschaffende wurden in Gaza durch die israelische Armee getötet. Dabei sind Journalisten ein Teil der Zivilbevölkerung und dazu besonders schützenswert, weil sie sich aufgrund ihres Berufs exponieren müssen. Es ist klar, dass die Hamas diesen Krieg mit dem Terror vom 7. Oktober ausgelöst hat. Aber wir haben an zahlreichen Beispielen, auch gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof, aufgezeigt, dass die israelische Armee den Schutz der Zivilbevölkerung viel zu wenig in ihre Planungen einberechnet.

Sie berichten außerdem von Journalisten, die offenbar gezielt getötet wurden.

Auch diese Fälle gibt es. Die israelische Armee sagt: Das seien Hamas-Kader gewesen, also Kombattanten. Aber wenn wir dann nach glaubwürdigen Belegen fragen, kommt wenig. Wir würden keine Journalisten verteidigen, wenn sie in Wirklichkeit Hamas-Leute wären. Aber wenn wir keine Beweise dafür bekommen, können wir als Menschenrechtsorganisation nicht einfach sagen: Gut, dann ist das so, bringt sie halt um.

Hat Reporter ohne Grenzen noch regelmäßig Kontakt zu Journalisten im Gazastreifen?

Grundsätzlich haben wir im Zweifel lieber etwas weniger Kontakte in Krisengebieten, die dafür aber eng, erprobt und verlässlich sind. Viele unserer langjährigen Kontakte in Gaza haben es geschafft, rauszukommen, was uns selbstverständlich sehr freut. Gleichzeitig gehen uns mehr und mehr verlässliche Kollegen verloren. Wir stehen aber natürlich weiterhin mit Journalisten in Gaza in Kontakt.

Wie ist denn die Internetverbindung vor Ort?

Die Verbindung ist schlecht. In den ersten Kriegsmonaten wurde das Internet immer mal wieder gezielt zerstört, wenn Gebäude mit Providern bombardiert oder Störsender eingesetzt wurden. Ein Vorgehen, das wir von allen modernen Armeen kennen. Nahe der Grenze empfängt man manchmal ägyptisches Handynetz, oder man versucht es über elektronische Sim-Karten. Wenn wir mit einer Quelle über einen Whatsapp-Call sprechen, dann gibt es sekündliche Abbrüche oder Verzögerungen.

Und was berichten ihre Kontakte von den Arbeitsbedingungen vor Ort?

Es ist sehr schlimm. Schon früh in diesem Krieg gab es Vertreibungen. Die Leute haben ihren Wohnort verloren, Familien wurden getrennt. Aktuell ist unsere Beobachtung, dass die Hungersnot stark zunimmt. Die Menschen sind fast nirgendwo sicher, selbst die humanitären Zonen wurden schon bombardiert. Es ist es ein Kampf ums Überleben. Ich habe größten Respekt davor, wenn Menschen unter diesen Bedingungen versuchen, journalistisch zu arbeiten. Natürlich haben sie auch ein Eigeninteresse, das hätte ich auch, wenn ich in diesem Krieg leben müsste. Das heißt aber nicht, dass nicht stimmt, was sie berichten, oder dass sie von der Hamas gesteuert sind.

Noch einmal grundsätzlich: Warum ist es für uns so wichtig, Bilder aus dem Gazastreifen zu sehen?

Bilder zeigen nie die ganze Wahrheit, aber sie sollten die Wirklichkeit dokumentieren oder sich ihr zumindest annähern. Sie sind wichtig, um einen möglichst akkuraten Eindruck zu bekommen, bestenfalls kombiniert mit Text und Videoanalysen. Wir sind visuelle Menschen, wir möchten die Dinge durch Bilder verstehen. Häufig fehlt uns für alles andere zudem schlicht die Zeit. Aber Bilder emotionalisieren auch und sind deswegen anfällig dafür, instrumentalisiert zu werden. Nehmen wir das markerschütternde Video der Hamas vom Wochenende, in dem eine abgemagerte israelische Geisel gezeigt wird. Sowas gibt die Hamas gezielt heraus mit dem Versuch, den Kriegsverlauf zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Inwiefern?

Das Video soll den Druck auf die israelische Regierung erhöhen, einen Deal zu schließen, damit die Geiseln freikommen. Und es gab in Israel ja auch umgehend wieder Proteste. Die Rechtsextremisten in Israels Regierung nutzen das Video wiederum für sich und sagen sinngemäß: “Die Hamas ist so grausam, jetzt müssen wir den Krieg erst recht weiterführen.” Journalisten bleibt in dieser Situation nur übrig, kritisch zu bleiben.

Mit Christopher Resch sprach Marc Dimpfel

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