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Bilanz der Berlinale 2025: Winterhauptstadt des Weltkinos | ABC-Z

Drei Frauen, Großmutter, Mutter und Tochter. Die Tochter hat sich in ihre Lehrerin verliebt; die beiden anderen lesen, Monate später, ihr Tagebuch einer Affäre, die keine war. Sie reden über das Manuskript und über das, was es bei ihnen ausgelöst hat: Erinnerungen, Wünsche, Sehnsüchte. Dazu sieht man in Rückblenden, was eigentlich passiert ist: ein paar Umarmungen und Streicheleinheiten, ein bisschen Strickunterricht. Aber natürlich ist sehr viel mehr geschehen, nicht an der Oberfläche, sondern innen, in den Herzen, im Kopf.

Dag Johan Haugeruds Film „Drømmer“ ist eine vielschichtige und wunderbar selbstironische Kino-Parabel über Liebe und Erwachsenwerden, das alte Spiel zwischen den Generationen und den ewigen Konflikt zwischen Worten und Bildern. Am Samstagabend bekam Haugerud dafür den Goldenen Bären der diesjährigen Berlinale. Das ist eine gute Entscheidung, auch wenn es mindestens zwei andere Filme im Wettbewerb gab, die den Hauptpreis des Festivals ebenso verdient gehabt hätten.

Ethan Hawke hätte einen Darstellerpreis verdient gehabt

Etwa Mary Bronsteins „If I Had Legs I’d Kick You“ über eine Psychotherapeutin und Mutter am Rand des Nervenzusammenbruchs. Oder „Living the Land“, Huo Mengs Chronik einer Dorfgemeinschaft Anfang der Neunzigerjahre, die so geduldig wie präzise den Aufbruch des ländlichen China aus dem Mittelalter in die digitale Moderne beschreibt. Auch „Blue Moon“, Richard Linklaters Hommage an den legendären Songtexter Richard Hart, hätte im Vergleich mit früheren Berlinale-Gewinnern keine schlechte Figur gemacht, schon deshalb, weil der Auftritt von Ethan Hawke in der Hauptrolle zu den schauspielerischen Leistungen gehört, die man nur einmal im Leben vollbringt.

Die Rolle seines Lebens: Ethan Hawke (rechts) mit Margaret Qualley in „Blue Moon“Sabrina Lantos

Man kann es auch anders ausdrücken: Es gab im Wettbewerb von Berlin mehrere gute Filme, aber keinen herausragenden. Das ist für ein hauptstädtisches Weltkinofest eine ernüchternde Bilanz; für die Berlinale, auf der zuletzt zweimal hintereinander der Hauptpreis an Dokumentarfilme ging, weil keiner der Spielfilme im Hauptprogramm die Jury wirklich überzeugt hatte, ist es ein Fortschritt. Tricia Tuttle, die neue Intendantin, hat damit etwas bewiesen, was im heutigen Kinogeschäft selten, aber bitter nötig ist: Urteilskraft. Sie hat das Niveau des Festivals auf Anhieb ein entscheidendes Stück weit angehoben, auch wenn der Weg zu den Höhen von Cannes immer noch lang ist.

Die Jury unter dem Vorsitz des amerikanischen Todd Haynes hat sich angesichts der starken Auswahl dadurch aus der Affäre gezogen, dass sie ihre Auszeichnungen möglichst breit verteilte: „Living the Land“ bekam den Silbernen Bären für die beste Regie, Rose Byrne den Preis für die beste Hauptrolle, und das Produktionsteam des französischen Beitrags „La tour de glace“ wurde mit dem Preis für eine herausragende künstlerische Leistung belohnt. Nur Ethan Hawke gewann unbegreiflicherweise keinen Bären; an seiner Stelle wurde sein Mitspieler Andrew Scott als Nebendarsteller geehrt.

Der große und der „kleine“ Jurypreis, mit denen die Berlinale von jeher ihren cineastischen Geschmack bekundet, gingen an zwei Filme aus Brasilien und Argentinien, die auf je eigene Weise von ungewohnten Reisen erzählen: In „O último azul“ („Das letzte Blau“) von Gabriel Mascaro ist es die Odyssee einer Greisin, die in den Urwald flieht, um der Einweisung in ein Heim zu entgehen, in Iván Funds „El mensaje“ („Die Botschaft“) der Weg eines Mädchens, das als Tiermedium mit seinen Großeltern durchs Land zieht, während seine Mutter in einer psychiatrischen Anstalt sitzt.

Man kann über die Berlinale 2025 nicht sprechen, ohne vom Wetter zu reden. Zu Beginn des Festivals fiel Schnee in dicken Flocken, so dass die Limousinen mit den Gästen der Eröffnungsgala mit Besen abgekehrt werden mussten, danach kam strenger Frost. Es waren die kältesten Filmfestspiele seit Langem und zugleich die ersten, die direkt vor einer Bundestagswahl stattfanden. Der 7. Oktober, der Amoklauf von Hanau, Trumps Politik des Bündnisverrats, sie alle warfen ihre Schatten auf die Berlinale.

Die Infrastruktur der Filmfestspiele ist bedroht

Zugleich gab das „Arsenal“ im ehemaligen Filmhaus am Potsdamer Platz, das dem Immobilienwucher zum Opfer gefallen ist, seine Abschiedsvorstellung als Festivalkino. Das Cinestar-Multiplex im einstigen Sony-Center hat schon 2019 seine Pforten geschlossen. Die Infrastruktur der Berlinale droht sich aufzulösen, viele ihrer Abspielstätten sind inzwischen kreuz und quer über die Stadt verteilt. Diese Entwicklung aufzuhalten und den Standort des Festivals in der Mitte Berlins zu stärken, ist nicht der Job der Festivalchefin. Es ist die Aufgabe der Politik.

Dafür gibt es gute Gründe. Den wichtigsten konnte man während der Filmfestspiele täglich erleben. Denn Berlin war in diesem Februar nicht nur die Winterhauptstadt des Weltkinos. Es war zugleich der Ort, an dem die Vision einer friedlichen globalen Gemeinschaft zehn Tage lang Wirklichkeit wurde, wenn auch nur in der kulturellen Blase einiger zehntausend Filmschaffender, Kinofans und Kritiker und unterbrochen von Peinlichkeiten wie dem BDS-Bekenntnis der Schauspielerin Tilda Swinton und dem Hetzbrief eines iranischen Nebendarstellers. Aber der symbolische Wert einer solchen Veranstaltung ist in Zeiten der Disruption und des Massenbetrugs unschätzbar.

Wenn es die Bundespolitik ernst meint mit der demokratischen Mission der Kulturbranche, wie sie die scheidende Kulturstaatsministerin Claudia Roth immer wieder beschwört, dann hat sie hier ein dankbares Betätigungsfeld. Die Berlinale könnte in den kommenden Jahren, wenngleich unter veränderten Vorzeichen, wieder zu jenem Aushängeschild des freien Westens werden, das sie einmal war. Dazu müsste man natürlich Geld in die Hand nehmen. Jeder Euro davon wäre gut angelegt.

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