Biathlon-WM in Lenzerheide: Warum Frankreich so viele Medaillen gewinnt – Sport | ABC-Z

Schlechte Frisuren sind im Biathlon gerade ein Indiz für Erfolg. Und obwohl er jetzt eine hat, zieht Éric Perrot jede Art von Kopfbedeckung vor. Der 23-jährige Franzose bekam noch auf dem Siegerpodium bei der Biathlon-Weltmeisterschaft in Lenzerheide das Haupt von Teamkollege Fabien Claude rasiert, übrig blieben zwei Streifen auf dem Oberkopf. „Es sieht schrecklich aus“, sagte Perrot und verzog das Gesicht. Die Wette, auf die er sich eingelassen hatte: Für einen WM-Titel müssen die Haare ab. Und mit seinen 19 Treffern bei 20 Schuss und der schnellsten Laufzeit im Einzel war eben niemand besser als dieser Éric Perrot, über den sie in Frankreich sagen: Er wird der neue Star im Biathlon.
„Ein Aufstieg, der gerade erst beginnt“, schreibt die Sportzeitung L’Equipe über Éric Perrot, und wer den jungen Biathleten in diesen Tagen beobachtet, bekommt durchaus den Eindruck: Da weiß einer, wo er hinwill. Manchmal sind es nur kleine Zeichen, die viel aussagen: Noch vor dem ersten Rennen in Lenzerheide stellte sich die gesamte französische Mannschaft in der Arena zur Auskunft bereit, und da ging Perrot selbst auf die Reporter zu. „Möchten Sie etwas wissen?“, fragte er freundlich – wozu man andere Athleten drängen muss, ist für ihn schon selbstverständlich.
:Staffel, Sprint und Massenstart: Alle Termine zu den Rennen
Vom 12. bis 23. Februar 2025 finden in der Schweiz die Weltmeisterschaften im Biathlon statt. Ein Überblick, wann welches Rennen startet und wer die Wettbewerbe im Fernsehen überträgt.
Überhaupt gibt es derzeit keinen Grund für die Franzosen, sich zu verstecken: Nach acht Rennen in der Schweiz standen sie mit zehn Medaillen so gut da wie keine andere Nation. Das gilt bei den Männern wie bei den Frauen. Julia Simon, Justine Braisaz-Bouchet und Lou Jeanmonnot, gleich drei Französinnen, konnten in Solo-Rennen aufs Podium stürmen. Für Éric Perrot klappte es wie für Braisaz-Bouchet und Quentin Fillon Maillet mit zwei Medaillen abseits der Staffeln, unter anderem eben mit dem ersehnten WM-Titel im Einzel. Bei gleicher Trefferbilanz hatte er fast eine Minute Vorsprung auf den zweitplatzierten Tommaso Giacomel. „Als Kind stellst du dir das immer vor, jetzt kann man das von sich selbst wirklich sagen: Ich bin Weltmeister. Das ist verrückt“, sagte Perrot später mit Mütze auf dem Kopf. „Die will ich gerade wirklich nicht abnehmen.“ Am Donnerstag gewannen Julia Simon und Quentin Fillon Maillet auch noch die Single-Mixed-Staffel.
Nicht zu viel nachdenken sei das Geheimnis des Erfolgs, sagt Éric Perrot, aber das gelingt einem erst mit dem nötigen Selbstbewusstsein. Eine Eigenschaft, die die Franzosen gerade fast geschlossen versprühen, auch an die Experten im Wachsteam gehen nach jeder Entscheidung herzlichste Dankesbotschaften. Und die Trainer kommen aus dem Freuen gar nicht mehr raus: Nicht nur die Riege an Medaillengewinnern ist beeindruckend, sondern auch jene an Nachwuchstalenten. So kommt man dann auch einer Antwort auf die Frage näher, warum die Franzosen gerade so gut sind. Verbandschef Stéphane Bouthiaux sagt: „Wir haben so viele junge Athleten, und es kommen immer mehr und mehr. Und je mehr an der Basis da sind, desto größer ist die Chance auf einen Athleten mit Top-Niveau.“ Oft, so sagt es Bouthiaux, wüssten sie gar nicht, wie sie die ganzen Biathleten und Biathletinnen in den Wettkämpfen unterkriegen sollen.
In jeder französischen Biathlon-Region gebe es „vier, fünf, sechs Trainer mit 50 Athleten, die es nach oben schaffen wollen“
Dass die Begeisterung in Frankreich für Biathlon so groß ist, liegt seiner Meinung nach vor allem daran, dass der Sport im Fernsehen viel geschaut werde – und an Martin Fourcade. Wegen seiner Erfolge, aber auch seiner Persönlichkeit, sagt Bouthiaux. Jahrelang hatte Fourcade sich große Kämpfe mit der Konkurrenz geliefert, sieben Mal konnte er die Weltcup-Gesamtwertung gewinnen, ist noch dazu mehrfacher Olympiasieger und Weltmeister. Die Begeisterung hat auch nach seinem Rücktritt angehalten.
Natürlich braucht es auch die nötigen Gegebenheiten, um die Leidenschaft in die richtigen Kanäle zu lenken. Ein starkes regionales Nachwuchssystem und ausreichend Trainer machen es möglich. „Wir haben sechs Biathlon-Regionen und da gibt es überall vier, fünf, sechs Trainer mit 50 Athleten, die es nach oben schaffen wollen“, sagt Stéphane Bouthiaux. Eine Luxussituation, beinahe einmalig. Nur die nordische Skination Norwegen könnte aus einem größeren Pool schöpfen, sagt der Franzose. „Aber dahinter liegt gleich Frankreich, denke ich. Wir haben mehr Talente als Deutschland, Italien oder sonst irgendwer.“ Und Konkurrenz im eigenen Land kann beflügeln, das sieht man auch am Alter der erfolgreichen Franzosen und vor allem Französinnen: Unter den besten zehn Athletinnen im Weltcup tummeln sich gerade fünf aus Frankreich, in Jeanne Richard und Océane Michelon zwei 22-Jährige. Keine schlechten Aussichten für Olympia 2030 in den französischen Alpen.
Sich früh beweisen zu müssen, kann einen stärken für die erste Liga des Biathlons, das merkt man jetzt auch an Éric Perrot. „Er ist 23 Jahre alt, hat aber die Reife eines 30-Jährigen“, sagt sein Trainer Simon Fourcade, der ein großer Faktor im Männerteam ist. Vor zwei Jahren wurde der ältere Bruder von Martin Fourcade als neuer Cheftrainer der Männer installiert, auf Wunsch der Athleten. Seine Vorgänger Vincent Vittoz und Patrick Favre waren überraschend zurückgetreten, es soll damals zu einem Zerwürfnis innerhalb der Mannschaft gekommen sein. Neben einem intensiveren Schießtraining helfe nun vor allem die offenere Kommunikation, sagte Biathlet Fabien Claude in Lenzerheide: „Es ist nicht anders als mit deiner Freundin: Wenn du ein Problem hast, musst du darüber sprechen, sonst wird es immer schlimmer.“
Dass jeder Erfolg seinen Preis hat, musste Simon Fourcade allerdings in der Schweiz auch erfahren: Auch dem Trainer sollte nach dem WM-Titel von Perrot der Kopf rasiert werden. Der Trost: Wenn die Haare schon nachgewachsen sind, werden die Medaillen noch immer glänzen.